„Leute sehen Triathlon nur wie ein Projekt“
„Der König von Roth“ im Interview: Lothar Leder über Körpergefühl statt Technikglaube

17.06.2023 | Stand 14.09.2023, 23:08 Uhr

2002 der vierte Sieg: Im Jahr darauf gewann Lothar Leder dann sogar ein fünftes (und letztes) Mal in Roth. Foto: Münch

Er durchbrach als Erster im Triathlon eine Schallmauer, dominierte über mehrere Jahre den Langdistanz-Klassiker in Roth – und gewann dort einmal mit nur drei Sekunden Vorsprung. Als Personal-Coach will Lothar Leder den Teilnehmern seiner Camps wieder mehr Körpergefühl statt Technikglaube vermitteln – und auch Lockerheit.



Herr Leder, Sie sind der erste Mann, der einen Langdistanz-Triathlon unter acht Stunden absolviert hat. Welche Erinnerungen haben Sie an das Rennen 1996 in Roth?
Lothar Leder: Das war damals ein heißer Tag mit super Stimmung. Also eigentlich ein normaler Roth-Tag (lacht). Im Laufe des Tages kochte das alles aber noch einmal nach oben, wurde immer mehr. Und dazu immer spannender. Den Rekord hatten wir gar nicht auf dem Schirm damals. Das kam erst auf den letzten Laufkilometern auf. Zuvorderst ging es aber um den Sieg. Es gab ja damals nur zwei große Rennen in Europa. Roth war eines davon. Deshalb war es so wichtig, dort zu gewinnen. Die Zeit spielte eigentlich keine Rolle. Ich hatte nicht mal eine Uhr dabei. Es gab damals auch schon Wattmesser fürs Rad. Aber auch das hatte ich nicht benutzt.

Ohne Pulsuhr, ohne sich sklavisch an Daten zu orientieren, mit einem vergleichsweise schweren Rennrad. Klingt nach einer anderen Sportart als heute...

Leder: So schwer war es aber nicht: Wir saßen schon gut auf dem Rad. Das waren halt noch Stahlrahmen. Aber schon das Beste, was damals zur Verfügung stand.

Sie stießen mit der Marke in eine neue Dimension vor. Wer über acht Stunden benötigt, braucht heute gar nicht mehr mit Sieggedanken bei einem größeren Rennen anzutreten. Wie bewerten Sie diese Leistungs-Explosionen?
Leder: Wer heute über acht Stunden unterwegs ist, der braucht tatsächlich fast gar keine Profi-Lizenz mehr zu beantragen. So stark ist das Niveau gestiegen. Viel ist der Technik geschuldet. Die Räder wurden so schnell, da hängen alleine 20 Minuten drin. Wir waren damals 4:20 Stunden auf den 180 Kilometern unterwegs, heute fährt fast jeder 4:00 Stunden. Auch bei Laufschuhen mit Carbonplatten kommen beim Marathon rund zehn Minuten zusammen. Wir hätten damals also rechnerisch auch schon 30 Minuten schneller sein können. Aber der Vergleich ist natürlich müßig.

Wo kann die Reise leistungstechnisch noch hingehen?
Leder: Da geht schon noch was. Die Optimierung läuft, viel wird im Windkanal verbessert, wie sogar die Triathlonanzüge. Die Kleinigkeiten summieren sich dann auch. Unter 7:30 Stunden sind an einem perfekten Tag vielleicht möglich. Aber die Sieben-Stunden-Marke ist natürlich Bullshit. Der reine Blick auf die Zeit ist ohnehin immer schwierig. Der Kurs ist auch in Roth fast jedes Jahr etwas anders. Ein bisschen Wind dazu. Da bist du gleich um Minuten schneller.

Die Technik-Zentrierung schreitet gerade in Ihrem Sport fast unaufhaltsam voran. Wie halten Sie es damit?
Leder: Ich bin schon sehr technikaffin und habe früher immer das beste Rad gefahren. Aber wir haben tatsächlich in Teilen einen Technik-Overflow. Wir versuchen in unseren Kursen, den Teilnehmern wieder mehr Gefühl beizubringen. Das verlieren die Leute durch die Technik. Man kann mit der technischen Unterstützung viel machen, aber es auch überdrehen. Man muss erst den ersten Schritt machen – und nicht gleich den fünften oder zehnten.

„Hawaii ist unbezahlbar geworden


Sie meinen Körpergefühl vor technischen Hilfsmitteln?
Leder: Ja, etwa das Gefühl für Geschwindigkeit, das eigene „Pacing“ erlernen – wie schnell man unterwegs ist. Aber auch beim Radfahren zunächst die grundlegenden Techniken beherrschen, sich sicher im Straßenverkehr bewegen, bevor man ein Zeitfahrrad kauft; ganz einfache Sachen wie für Einsteiger. Es ist sehr viel Geld im Triathlon vorhanden, was einerseits gut ist, aber auch negative Seiten hat. Segen und Fluch: Da kaufen Leute schnell mal ein Fahrrad für 15000 Euro, das aber fehl am Platz ist, weil die Fahrtechnik vielleicht nicht vorhanden ist. Sicherheit steht einfach an oberster Stelle.

Aufgrund der ganzen Selbstoptimierung scheinen viele auch den eigentlichen Spaß an der Sportart gar nicht zu finden.
Leder: Das stimmt, diese Lockerheit aus den 1990ern ist ein Stück weit verloren gegangen. Heute wird ja in allen Lebensbereichen optimiert. Die Leute sehen den Triathlon nur wie so ein Projekt, was schade ist, gerade wegen der sozialen Komponente. Früher saßen wir nach den Rennen zusammen, haben am Abend gemeinsam ein Bier getrunken. Das gibt es heute nicht mehr. Meine Ziele kann ich auch erreichen, wenn ich locker bleibe. Heute kannst du alles „tracken“, sogar den Schlaf, und optimieren wollen. Dabei geht der Blick auf das Wesentliche verloren.

Wie schwer ist es für Sie, den Teilnehmern die Lockerheit bewusst zu machen?
Leder: Wir versuchen das in den Seminaren vorzuleben. Und das funktioniert gut. Wir haben eine hohe Rate an Wiederkehrern. Wir trainieren ja auch nicht Schwachsinn oder veranstalten ein Kasperletheater. Die Lockerheit gehört aber dazu, viele Athleten sind richtig gut, wenn sie locker und nicht verbissen unterwegs sind.

Triathlon war über viele Jahre vielleicht „die“ Boom-Sportart überhaupt. Merken Sie eine Abschwächung?
Leder: In unseren Camps sehen wir das nicht, aber bei den Ironman-Rennen stellt sich eine Sättigung ein. Die Zahlen sinken. Rennen sind wegen der Vorgaben der Behörden schwieriger genehmigt zu bekommen. Kleinere, ehrenamtlich organisierte Veranstaltungen fallen auch weg. Ich war drei Jahre lang selbst Rennorganisator. Die Kosten steigen einfach.

Verlegung der Ironman-WM nach Nizza „sehr gut“


Besonders für den großen Traum Hawaii. Die Teilnahme dort scheint für viele Sportler gar nicht mehr finanzierbar zu sein, selbst für Profi-Starter.
Leder: Ja, Hawaii ist unbezahlbar geworden für jemanden, der einen normalen Job hat und die Familie mitnehmen will. Deshalb finde ich die Verlegung der Ironman-WM im jährlichen Wechsel nach Nizza auch sehr gut. Besonders für uns Europäer. Da kann ich einfach mit dem Auto hin. Und ich sehe das auch ganz anders als viele andere: Nizza hat den gleichen Mythos wie Roth. Das ist auch ein ganz geschichtsträchtiges Rennen – und ganz schwer zu gewinnen. Das ist für mich genauso toll wie Hawaii.

Die Profi-Männer starten heuer am 10. September in Nizza, die Frauen einen Monat später am 14. Oktober auf Hawaii. Was halten Sie von der Trennung der Ironman-WM?
Leder: Das ist eine mediale Katastrophe. Die großen Fernsehstationen fahren wahrscheinlich gar nicht nach Hawaii. Dann fallen die Frauen wieder hinten runter. Das ist auch für das Sponsoring alles andere als gut.

Wo rangiert Hawaii in Ihrer persönlichen Wertung? Sie landeten dort zweimal auf dem dritten Platz (1997, 1998).
Leder: Roth war natürlich immer mein Lieblingsrennen – weil ich dort gewinnen konnte (lacht). Und es ist das mit dem schönsten Flair, das kommt an Hawaii ran. Bei der Ironman-WM hat es nie für ganz oben gereicht, weil ich einfach zu viele Rennen im Jahr gemacht habe. Da war ich immer kaputt auf Hawaii.

Sie waren Vielstarter mit teils fünf Langdistanzen in einem Jahr.
Leder: Ich wollte immer viele Rennen machen, weil es mir Spaß gemacht hat. Man musste aber auch ein Vielstarter sein, um was zu verdienen. Das ist jetzt ganz anders. Wer in Roth gut ist, kann inzwischen drei Jahre davon leben.

500 Mark als Startgeld – und fürs Rennrad wurde gesammelt


Nach Ihrem Rekord-Rennen als Erster unter acht Stunden bekamen Sie erstmals überhaupt Startgeld.
Leder: Ja, das gab es vorher alles gar nicht. Wir sprechen ja von Mitte der 1990er. Aber auch das war überschaubar: 500 Mark.

Fünf Siege beim Ironman Europe, so der ursprüngliche Name, beziehungsweise nach der Umfirmierung beim Challenge: Sie sind der „König von Roth“. Was macht für Sie den Mythos des Rennens aus?
Leder: Das Ambiente und das ganze Flair an diesem Wochenende. Egal unter welchem Namen. Es könnte auch wieder unter dem Label Ironman sein. Der Mythos würde bleiben.

Unvergessen sind Ihre Duelle mit Chris McCormack. 2003 kam es nach über acht Stunden, in denen Sie Seite an Seite unterwegs waren, zum Sprintduell. Sie gewannen mit drei Sekunden Vorsprung! Welche Erinnerungen haben Sie an die letzten Meter?
Leder: Gar nicht mehr viele. Das verschwimmt alles. Ich wollte aber auf keinen Fall eine Entscheidung an der Ziellinie, sondern schon vorher bei einer Steigung anziehen. Im Ziel sind wir beide zusammengebrochen. Die Bilder sehen schlimm aus, die habe ich mir auch, glaube ich, erst einmal angesehen. Aber nach fünf Minuten steht man da auch wieder.

Ihr schönster Sieg? Ihre Frau Nicole kam ja eine Stunde später auch als Siegerin ins Ziel – und Sie konnten sie in Empfang nehmen, stehend.
Leder: Das war natürlich toll, dass wir beide gewonnen haben. Das gibt es ganz, ganz selten. Dennoch war der Sieg unter acht Stunden damals schöner, weil einfach die Premiere.

Als Winzersohn in Rheinhessen – wie hätte Ihre Lebensplanung ohne Triathlon ausgesehen? Weiter nach der Banklehre in der Bank?
Leder: Ich würde wahrscheinlich noch dort sitzen. Wenn du keine andere Möglichkeit hast, machst du das. Aber durch den Sport hast du viele Möglichkeiten.

Eine Ihrer Lehrerinnen hat Sie wegen Ihres Berufswunschs Triathlon-Profi ausgelacht.

Leder: Ja, damals mit 17. Da wurde ich aber von jedem ausgelacht, als ich das öffentlich kommuniziert habe. Das war damals eine absolute Randsportart – und auch schwierig zu finanzieren.

Für Ihr erstes Wettkampfrad wurde sogar gesammelt. Wie kam’s dazu?
Leder: Mein Heimatverein, die LLG Wonnegau in Rheinhessen, hat das übernommen. Das vergesse ich denen nie. Das war schon sehr cool. Das Rad war ein Francesco Moser auf Stahlrahmen. Der hängt noch bei meinen Eltern. Das Originalrad von 1998 hängt übrigens bei Campagnolo. Viele denken, das steht in Hilpoltstein im Radladen, aber das ist nur eine Replik.

Nachmelder Peter Heemeryck als heißer Tipp für den Challenge


Wo trifft man Sie nächste Woche am Rennwochenende in Roth?
Leder: Wir betreuen zwölf Starter, da findet man mich weniger im VIP-Bereich, sondern mehr draußen an der Strecke bei den Athleten.

Das Männerfeld ist am 25. Juni einmal mehr extrem stark besetzt, mit den Hawaii-Siegern Patrick Lange und Sebastian Kienle, Vorjahressieger Magnus Ditlev, dem Hawaii-Zweiten Sam Laidlow, dazu Daniel Baekkegard. Wer ist Ihr Favorit?
Leder: Patrick Lange hat ’ne gute Chance. Wenn sie ihn auf dem Rad nicht abhängen, ist er beim Laufen sehr gefährlich. Aber Peter Heemeryck, der nachgemeldet hat, ist ein ganz schneller Mann. Auf den würde ich tippen. Vielleicht bekommen wir wieder ein Sprintduell – wie damals bei uns.

DK



ZUR PERSONnameLothar LederGEBURTSTAG3. März 1971 in Flörsheim-DaisheimBERUFProfi-Triathlet, Bankkaufmann, Personal-CoachSPITZNAME„Der König von Roth“ GRÖSSTE ERFOLGEFünffacher Sieger beim Ironman Europe beziehungsweise Challenge Roth (1996, 2000 bis 2003) GUT zU WISSEN IEhefrau Nicole Leder ist mit Langdistanz-Siegen in Korea (2000), Florianopolis (2002), Roth (2003 und 2004), Langkawi (2007) und Frankfurt (2007) eine der erfolgreichsten deutschen Triathletinnen.GUT ZU WISSEN IILothar Leder siegte im Jahr 2002 auf der Langdistanz beim Klassiker in Roth und beim erstmals ausgetragenen Ironman-Rennen in Frankfurt – und das innerhalb von nur 42 Tagen.WAS ER SAGT „Es geht alles über den Kopf, der macht auf der Ironman-Distanz 30 Prozent aus.“