Schwebebalken, Felgaufschwung – spätestens in der Schule macht jeder Bekanntschaft mit dem Turnen. Doch es gibt immer wieder Kinder, die Angst vor einer Übung haben, Angst, sich zu blamieren. DTB-Vizepräsidentin Christine Noe spricht über den Wandel im Schulsport, was verbesserungswürdig ist, über Notengebung, und darüber, wie Lehrer Schüler unterstützen können.
Frau Noe, Sie lehren am Sportzentrum der Uni Würzburg und bilden die Sportlehrer von morgen aus. Was sollen die Lehrer den Kindern im Schulsport vermitteln?
Christine Noe: Der normale Schulsport dient nicht der Talentsuche für den Vereinssport. Kinder sollen erkennen, dass Bewegung in ihrem Alltag eine wichtige Rolle spielen sollte. Für die Sportlehrer sind die Aufgaben vielfältig geworden: Gesundheitserziehung, die Schüler sollen soziale Kompetenz entwickeln, Freizeiterziehung, Wagniserziehung, um sich einschätzen zu lernen – und das alles neben der motorischen Leistungsfähigkeit, die sich ja auch entwickeln soll. Viele sagen ja, Sportunterricht ist der falsche Begriff, eigentlich müsste man es Bewegungsunterricht nennen. Es geht nicht nur um Sportarten im engeren Sinne, sondern um Bewegung. Die Verbesserung zu früher: Wir haben ganz viele Möglichkeiten…
... aber auch ganz viele Anforderungen
Noe: Genau. Die vielleicht manchmal auch überfordern.
Jetzt sind Sportstunden sowieso Mangelware. Wie können denn Lehrer zusätzliche Themen unterbringen, beispielsweise Gesundheitserziehung?
Noe: Das geht beispielsweise los mit dem Thema, die Matte richtig zu tragen. Darauf muss ich tatsächlich selbst meine Studenten ab und an hinweisen und sagen: „Geh' halt runter in die Knie.“ In der Jugend mag das noch nicht problematisch sein, aber auf Dauer ist das falsche Heben nicht gut für den Rücken. Dann bringen Kinder auch etwas zu trinken mit. Ganz normales Wasser ist völlig ausreichend, um den Durst zu löschen. Sie brauchen nicht unbedingt isotonische Getränke, die ja oft auch zuckerhaltig sind.
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Es gibt viele Ansatzpunkte, die man nebenbei thematisieren kann. Es geht darum, das Verständnis für Gesundheit zu schärfen. Das ist nicht so einfach. Viele junge Menschen sind in der Regel fitter als die älteren, denen fällt es gar nicht auf, dass manche Dinge langfristig problematisch sind.
Am Sportunterricht, speziell am Turnen, scheinen sich die Geister grundsätzlich zu scheiden. Für die einen ist es Traum, für die anderen Trauma. Woher rührt das?
Noe: Ich glaube schon, dass turnerische Bewegungen – diese Art „Kunststücke“ – etwas sind, das viele gerne können möchten. Für viele Schüler ist es aber eine große Herausforderung, sich da überhaupt heranzutrauen. Manche zeigen hingegen gerne, was sie können.
Was geben Sie den Studenten an die Hand, um Schülern mit solchen Ängsten zu begegnen?
Noe: Wichtig sind eine gute Methodik und eine positive Übungsatmosphäre, damit vielleicht erst gar nicht Angst aufkommt. Wenn jemand trotzdem Angst hat, hilft nur Geduld. Und versuchen herauszufinden, vor was der Schüler genau Angst hat. Angst davor, sich zu verletzen? Angst vor einem gewissen Element, weil es neu ist und man nicht weiß, wie es funktioniert? Angst davor, sich mit seinem Körper zu präsentieren?
Gerade beim Turnen sind die Fehler ja oft offensichtlich. Wenn ich beim Reck nicht hochkomme, dann merkt man es sofort, und das kann unangenehm und demotivierend sein. Wenn die Schüler dann endlich nach oben kommen, die Übung aber noch fehlerbehaftet war, dann muss ich das ja nicht immer so formulieren.
Für manchen ist es schon ein Erfolg, oben zu sein, egal ob die Beine gestreckt sind. Vielleicht sieht das mancher Lehrer zu kampfrichterorientiert. Ganz wichtig. Wenn ich kritisiere, muss es immer eine konstruktive Kritik sein. Und nicht an der Person rumkritisieren, sondern nur an der Handlung. Schüler sollen sich wohlfühlen, es soll eine Atmosphäre herrschen, bei der auch Fehler gemacht werden dürfen.
Hoher psychischer Druck
Und wie können Lehrer den Schülern die Furcht davor nehmen, sich vermeintlich zu blamieren, ausgelacht zu werden?
Noe: Dann ist es oft hilfreich, wenn die Schüler in Kleingruppen arbeiten dürfen. Es muss nicht klassisch wie im Wettkampf gemacht werden: Einer geht ans Gerät und alle schauen zu. Wenn ich Noten gebe, würde ich das auf gar keinen Fall so machen. Ich würde versuchen, die anderen zu beschäftigen, damit nicht alle zuschauen. Denn das empfinden manche als hohen psychischen Druck.
Ein ganz wichtiges Thema sind auch Helfergriffe, gerade, wenn ich in Kleingruppen üben lasse. Bereits im Grundschullehrplan wird beschrieben, dass sich Schüler gegenseitig helfen und sichern sollen. In diesem Bereich verhält es sich genauso, wie beim Turnen lernen. Ich kann das nicht von heute auf morgen, sondern ich muss das methodisch nach und nach erlernen. Es gibt ganz einfache Sachen. Die ersten Helfergriffe bei einer Rolle vorwärts oder nur mal die Hand geben, damit der Klassenkamerad leichter aufstehen kann. So kann man die Schüler nach und nach heranführen. Und das sollte man wirklich auch kontinuierlich einbauen. Nur so können Schüler gute Helfer werden.
Mag es vielleicht aber auch daran liegen, dass der Lehrplan prall gefüllt ist? Es bleibt sehr wenig Zeit, um länger an einem Gerät zu üben.
Noe: Das ist auch die Krux im Schulsport. Der Sinn des Schulsports ist ja, ein ganz breites Portfolio anzubieten, um viele zu erreichen. Die Konsequenz: Es bleibt für jede Sportart nur ganz wenig Zeit. Da bin ich auch bei denjenigen, die sagen: Ich bin froh, dass die Schüler den Aufschwung schaffen, und ob die den mit gehockten oder gestreckten Beinen machen, ist zweitrangig. Ich glaube, dazu muss man kommen. Im Basissportunterricht geht es darum, ein breites Angebot zu schaffen. Es gibt im Lehrplan die Möglichkeit, verschiedene Fitness- und Freizeitsportarten anzubieten, in der Hoffnung, dass man den Kindern auch mal was zeigt, was sie noch gar nicht kennen, und sie sich in der Freizeit mehr bewegen.
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Parkour beispielsweise ist mittlerweile sehr beliebt.
Noe: Das sind auch sehr schwierige Bewegungen, aber sie müssen nicht nach einer gewissen Norm ausgeführt werden. Es geht darum, den Parcours zu überwinden, nicht darum, turnerische Perfektion zu zeigen. Das Feedback, das ich von meinen Lehrerkollegen bekomme: Bei Parcours oder Bewegungslandschaften machen fast alle Schüler gerne mit. Beim Turnen ist es halt so: Das machen die meisten gerne, aber wenn es zum richtigen Gerätturnen geht, trauen sich nicht so viele ran. Wobei ich der Meinung bin, man kann das Gerätturnen auch anders verkaufen.
Notengebung pro und contra
Macht Notengebung im Sportunterricht überhaupt Sinn?
Noe: Wir haben mittlerweile relativ viele Möglichkeiten, Leistungen zu beurteilen. Man könnte beispielsweise auch eine Gruppenübung bewerten. Ich habe die Möglichkeit, bei Schülern, die sich mit der reinen turnerischen Leistung schwertun, die Gestaltung der Übung zu bewerten, wie kreativ diese beispielsweise ist. Gestaltung ist ein Bereich, der im Lehrplan steht. Ich könnte aber auch mal die Helfergriffe bewerten lassen.
Grundsätzlich empfehlenswert ist, nicht eine klassische Pflichtübung vorzugeben, sondern einen Katalog von verschiedenen Bewegungen, aus dem sich die Schüler welche raussuchen. Dann könnte man die schwierigeren Elemente besser bewerten. Das wäre die klassische Idee des Turnens im höheren Wettkampfbereich. Oder man bewertet alle Übungen gleich. Das würde im Prinzip unser breitensportorientiertes Wettkampfprogramm „Turn10“ aufgreifen.
Also halten Sie Notengebung im Sportunterricht für sinnvoll?
Noe: Das ist eine Frage, die man nicht so einfach mit Ja oder Nein beantworten kann. Ich persönlich glaube, dass es nicht unbedingt sein müsste. Die Note im Sport, außer in der Kollegstufe, ist dahingehend ein bisschen anders zu sehen, da sie nicht vorrückungsrelevant ist. Ich kann im Sport nicht „sitzenbleiben“. Das gibt ja vielleicht auch die Möglichkeit, ein bisschen pädagogischer zu benoten. Auf der anderen Seite erlebe ich oft, dass Kinder wissen wollen, ob sie es jetzt gut gemacht haben. Sie wachsen in einer Leistungsgesellschaft auf und kennen das in der Regelschule, dass sie überall Noten bekommen.
Spricht etwas für die Notengebung?
Noe: Das Fach Sport an sich. Sport ist eigentlich ein unfassbar wichtiges Fach. Alle sagen und denken, Bewegung ist wichtig. Aber wir haben durchaus mit unserer Legitimation zu kämpfen. Wenn was hinten runterfällt, wenn es knapp wird mit Schulstunden, dann ist sehr oft der Sportunterricht betroffen. Wenn man nun sagt, hier gibt es überhaupt keinen Leistungsnachweis mehr, könnte es durchaus sein, dass die Wichtigkeit dieses Fachs runtergeschraubt wird. Ganze Bereiche des Lehrplans, beispielsweise Schwimmen, fallen in manchen Schulen jetzt schon komplett weg, auch aufgrund der Rahmenbedingungen. In den Städten, in denen die Schwimmbäder geschlossen bleiben, gibt es eben kein Schwimmen.
Hallen teils schlecht ausgestattet
Wie könnte man den Schulsport verbessern?
Noe: Es gibt Schulen, die sind super ausgestattet, haben gute Hallen, gute Geräte. Wenn ich aber in einer Halle stehe, in der auf jedem zweiten Gerät ein orangefarbener Aufkleber pappt, dass ich es gar nicht mehr verwenden kann, wenn ich nur noch einen Kasten habe, statt fünf, dann ist es halt schwierig, methodisch zu arbeiten. Oder wenn ich erst durch die halbe Stadt fahren muss, um zu einem Schwimmbad zu kommen: umziehen, föhnen – dann kann ich es auch verstehen, wenn Lehrer sich fragen: „Lohnt sich das überhaupt, wenn die Schüler am Ende nur 20 Minuten im Wasser sind?“ Oder wenn der Sportunterricht als Einzelstunde im Stundenplan steht: 45 Minuten. Umziehen, aufbauen. Das ist schwierig.
Was geben Sie den Studenten mit, damit sie mit den Realitäten zurechtkommen?
Noe: Man kann nicht alles abpuffern. Es ist wichtig, eine sehr gute Organisation zu haben. Klassischer Fehler: die Bälle ausgeben, bevor man seine Ansage gemacht hat. Wenn die Kinder mal den Ball in der Hand haben, dann hören die einen gar nicht mehr. Dann muss man erst wieder Ruhe reinbringen, und da geht wieder viel Zeit verloren.
Und trotz der besten Unterrichtsorganisation muss man immer gewappnet sein, schnell kreative Lösungen zu finden – auch wenn mal wieder eine Matte kaputt ist oder nicht alle Geräte zur Verfügung stehen. Es gibt ja nicht nur einen Weg, sondern verschiedene. Durch alternative Geräte kann ich auch den Unterricht bewegungsintensiver machen. Oft habe ich ja nur zwei Barren, dann stehen 30 Schüler an. Dann nehme ich noch zwei Kästen, dann können die dort auch stützen und schwingen üben.
Was würden Sie sich für den Schulsport wünschen?
Noe: Wir brauchen grundlegend mehr Sportstunden. Es wird ja immer wieder die tägliche Sportstunde gefordert. Aber es wäre ja schon mal gut, wenn überhaupt das, was aktuell im Lehrplan steht, umgesetzt werden würde. Und das gilt jetzt wahrscheinlich für alle Schulfächer: Mit 30 oder mehr als 30 Schülern in einer Klasse ist das natürlich schwierig.
Kein Verein trainiert regelmäßig mit 30 Sportlern und nur einem Trainer.
Noe: Ganz bestimmt nicht. Wenn 35 Leute in der Halle rumrennen, ist es anstrengender, als wenn es nur 25 sind – auch vom Sicherheitsaspekt her.
Interview: Birgit Pinzer
Vorfreude aufs Turnfest
Christine Noe (49) ist Vizepräsidentin des Deutschen Turner-Bundes und des Bayerischen Turnverbandes. Sie promovierte an der Sporthochschule Köln („Dropout im weiblichen Kunstturnen – Eine multimethodische Untersuchung unter Berücksichtigung der Bedeutung des sozialen Umfeldes“).
Die akademische Oberrätin am Sportzentrum der Universität Würzburg freut sich auf das Bayerische Landesturnfest, das von Freitag bis Montag in Regensburg stattfindet: „Die Turnfeste sind die größten Breitensportveranstaltungen, die es gibt. So ein Turnfest bildet die ganze Bandbreite an Bewegung ab“, sagt sie. „Viele denken beim Turnen immer nur ans Gerätturnen, an das Wettkampfturnen. Das ist natürlich auch ein wichtiger Bestandteil, wir haben viele Angebote im Wettkampfsport, aber auch im nicht-wettkampforientierten Bereich viele Mitmachangebote. Wir sind der Verband, der für alle was hat“, befindet Noe.
Ihre Erinnerungen an ihr letztes Turnfest: „Das war in Schweinfurt und meine nichtturnenden Freunde fragten, zu welcher Halle sie denn kommen sollten. Ich sagte: ,Einfach nach Schweinfurt fahren, das Turnfest ist überall.‘ So wird es in Regensburg ebenso sein.“
Weitere Infos zum Turnfest gibt es unter www.turnfest23.de
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