„Jesus Christ, Kris!“
Serie zur Rallye-WM in Bayern: Wie Pilot Meeke mit wildem Ausritt in Mexiko ein Stück Motorsport-Geschichte schrieb

20.09.2023 | Stand 20.09.2023, 18:27 Uhr

Irrfahrt auf dem Zuschauerparkplatz: Wenige hundert Meter vor dem Ziel der Rallye Mexiko 2017 flog der Citroën-Pilot Kris Meeke auf der letzten Etappe von der Strecke ab und holte trotzdem noch den Gesamtsieg. Foto: Screenshot mgb

Auch wenn die Rennserie mangels lokalem Kolorit zuletzt etwas aus dem Blick vieler Deutscher geraten ist, so stellt die Rallye-Weltmeisterschaft nach wie vor den spektakulärsten Zirkus auf vier Rädern. Und Ende Oktober kommt sie nach Bayern.



Audi begründete hier seinen Mythos, als die Ingolstädter Anfang der 1980er ihre fauchenden und feuerspuckenden Quattro-Modelle ins Rennen schickten und die Konkurrenz zunächst in Grund und Boden fuhren. Zwar ist die Zeit dieser Gruppe-B-Monster und der dazugehörigen Fanexzesse längst vorbei und Motorsportgeschichte. Doch die Legende vom vielleicht besten Fahrer aller Zeiten, der aus Regensburg stammt und Walter Röhrl heißt, wird gerne erzählt.

Dreh- und Angelpunkt des WM-Laufs ist Passau



Ende Oktober nun steht die Rallye-WM voll im Fokus: Sie kommt mit Dreh- und Angelpunkt Passau erstmals nach Bayern und hat kaum etwas von ihrer Faszination verloren. Auch Röhrls jüngere Kollegen pilotieren ihre Rallye-Boliden bewundernswert über Asphalt, Schotter oder Eis in halsbrecherischer Art. Ab und zu rauscht freilich mal einer von der Piste, aber nie resultierte aus einem dieser Abflüge ein solches Renndrama wie bei der Rallye Mexiko 2017 auf der letzten Etappe, genannt Derramadero. Drei Tage hatten sich die Piloten der Fords, Toyotas, Hyundais und Citroëns über die staubigen Wege auf teils über 2500 Metern Höhe gequält – und keiner dabei gekonnter als der Nordire Kris Meeke (37) im C3. Komfortable 37,8 Sekunden lag er mit seinem irischen Beifahrer Paul Nagle am Start der letzten 21,94 Kilometer vor dem in München lebenden Serienweltmeister Sébastien Ogier aus Frankreich – scheinbar uneinholbar. Nur noch die Kiste sicher ins Ziel bringen, den vierten Rallye-Sieg der Karriere einfahren, hätte das Motto sein können. Aber nicht beziehungsweise nie für Meeke, der wie sein schottischer Mentor Colin McRae für seine wilden Ritte berühmt, berüchtigt, geliebt und auch bei seinem Arbeitgeber wegen der hohen Unfallgefahr gefürchtet war.

Der Beifahrer ruft nur noch: „Oh nooooo!“



„Er lässt nicht nach. Er will das hier!“, stutzte der Reporter des Hausfernsehsenders, als die Kamera den Rasenden ins Bild rückte. Nur wenige hundert Meter vor dem Ziel, in einer langen Rechtskurve, erwischte der fliegende Nordire aber einen kleinen Hubbel, was Co-Pilot Nagle die Worte „Jesus Christ, Kris!“ aus dem Mund schießen ließ. Gefolgt von einem „Oh nooooo!“. Denn der Citroën des Duos flog links von der Piste, knapp über zwei geparkte Autos hinweg und landete unsanft, aber auf den Reifen.

Die mitfiebernde Citroën-Crew im Kontrollraum flippte beim Anblick dieser Livebilder regelrecht aus. Männer versanken in ihren Stühlen, rauften sich die Haare. Auch die Fahrerkollegen im Ziel, Ogier und besonders der auf der Etappe führende Belgier Thierry Neuville – beide in Passau am Start – verfolgten die Fernsehbilder mit tellergroßen Augen. Beinahe comichafte Szenen spielten sich an der Strecke ab: Zunächst orientierungslos steuerte Meeke seinen Wagen auf dem staubigen Acker mitten in geparkte Autos der Zuschauer hinein. Mit flackerndem Blick begleitete Nagle den Weg seines Fahrers. Meeke selbst stammelte „Wie kommen wir hier raus?“.Irgendwie bogen die Männer richtig ab, fanden in der Staubwolke eine kleine Böschung, die Meeke später als Ziegenpfad identifizieren sollte, und sprangen durch die trassierte Absperrung tatsächlich zurück auf die Strecke, wo es wieder nur ein Motto gab: Vollgas und beten. Die Zeit tickte gnadenlos herunter, gewiss die längsten Sekunden in der Karriere der beiden Männer folgten, bis die Ziellinie sie erlöste.

Mehr dazu lesen Sie im Interview des Monats mit Thierry Neuville

Gewaltiger Jubel brandete auf, Erwachsene trommelten wie Kinder auf Tische, lagen sich in den Armen – gemeint ist allerdings nur die Citroën-Crew im Kontrollzentrum. Sie sah: 13,8 Sekunden hatte Meeke noch gerettet, der Gesamtsieg. Doch das wussten Fahrer und Co-Pilot unter dem Zielbogen gar nicht. „Oh Mann, Kris“, entfuhr es Nagle im Wagen, als der auf den finalen Stopp zurollte. „Wir haben es verloren.“ Sie dachten natürlich, sie hätten alles vergeigt. Bis dann doch noch das Signal kam: Rallye-Sieger!

„Puh, ich bin ein glücklicher, glücklicher Junge“, sagte Meeke in die Fernsehkamera. Dann schickte er mit einem Blick nach oben noch ein Stoßgebet zum Himmel. Göttlicher Beistand war gewiss an Bord bei diesem Stück Rallye-Geschichte – natürlich nicht dem einzigem.

DK



Die Rallye-WM gastiert bei der Central European Rally von 26. bis 29. Oktober erstmals in Niederbayern, Österreich und Tschechien, mit Fahrerlager und Siegerehrung in Passau. Mit Artikeln über Kuriositäten aus der 50-jährigen Geschichte der spektakulären Rennserie stimmen wir in loser Folge auf das Motorsport-Highlight ein.