100 Jahre SRG Deggendorf
Wie sich die Ausbildung der Fußball-Schiedsrichter verändert (hat) – und warum es immer weniger gibt

24.08.2023 | Stand 12.09.2023, 22:58 Uhr

Ganze acht Neulinge legten letztes Jahr noch die Schiedsrichter-Prüfung ab. Vergleicht man diese Zahl mit vor 25 oder 30 Jahren, wo teilweise über 30 Teilnehmer den Kurs besuchten, ist die Entwicklung erschreckend. Gründe dafür gibt es viele. −Fotos: Schiedsrichtergruppe Deggendorf

1923 – 2023: Die Schiedsrichtergruppe Deggendorf feiert im September ihr 100-jähriges Jubiläum. Der Heimatsport Deggendorf unternimmt einen Streifzug durch die Jahrzehnte und beleuchtet in einer Serie verschiedene Themenbereiche. Teil 2: Der Wandel im Ausbildungswesen.

„Nachwuchssorgen?“ – das war die Schlagzeile über einem Artikel im Jahresrückblick 1989, den die Schiedsrichtergruppe Deggendorf seither jedes Jahr erstellt. Was war passiert? Zum Neulingskurs waren damals nur 26 Teilnehmer erschienen. Ein Minusrekord, verglichen mit den vorherigen Jahren. Nicht einmal die Marke von 30 Interessenten konnte geknackt werden.

Darüber muss Markus Eglseder fast schon herzhaft lachen. Der 30-Jährige ist seit 2014 im Lehrstab der Schiedsrichtergruppe Deggendorf tätig und seit 2017 Lehrwart. Er ist damit Hauptansprechpartner für alle Interessenten an einem Neulingskurs und für die Ausbildung verantwortlich. „Von solchen Zahlen können wir mittlerweile nur träumen“, berichtet der Gymnasiallehrer. „Letztes Jahr hatten wir acht Neulinge, das war vergleichsweise mal wieder ein großer Kurs. Unseren größten Erfolg konnten wir 2014 verbuchen. Im ersten Kurs, den ich mit dem damaligen Lehrwart Daniel Linsmeier abgehalten habe, hatten wir 15 Teilnehmer. Das war verglichen mit den Jahren davor – und leider vor allem verglichen mit denen danach – schon fast eine Sensation für uns.“

Heutzutage sind die Neulinge viel jünger



Bei der Durchsicht der alten Chroniken zeigen sich so manche Unterschiede – aber auch viele Parallelen zur Neulingsausbildung im Vergleich zu früher. Die Teilnehmerzahl war vor 30, 40 Jahren viel höher, um die 30 Neulinge waren an der Tagesordnung. Heutzutage werden in der Schiedsrichtergruppe Deggendorf pro Jahr noch etwa 10 bis 15 neue Referees ausgebildet, oft aber in mehreren Kursen, so dass die Teilnehmerzahlen bei um die fünf Personen liegen.

Früher waren die neuen Referees auch älter. Eglseder: „Es waren viele dabei, die die Fußballschuhe an den Nagel gehängt haben, dem Sport an sich aber treu bleiben und anderen ihr Hobby ermöglichen wollten.“ Dieses Bild hat sich stark gewandelt. Heutzutage sind die Neulinge viel jünger, der Großteil ist zwischen 13 und 17 Jahre alt. Das Mindestalter für einen Neuling beträgt zwölf Jahre.

Der Frage nachzugehen, woher dieser Wandel kommt, ist müßig. Es gibt nicht den einen Grund dafür. Heutzutage beginnen die Kinder schon sehr jung mit dem Kicken, Woche für Woche stehen sie für Training und Spiele auf dem Platz. Sobald sie ins Berufsleben eintreten, wird auch dort die Erwartungshaltung immer größer, man ist unter der Woche vielleicht noch deutlich beanspruchter als früher. Privat kommen irgendwann Verpflichtungen wie Haus und Familie dazu. Da ist es nur verständlich, dass viele nach Ende ihrer Fußballerlaufbahn kürzertreten und nicht mehr jedes Wochenende auf dem grünen Rasen zubringen wollen. Deggendorfs Lehrwart blickt auch auf die Situation in den Klubs: „Mit diesem Problem haben ja auch die Vereine zu kämpfen. Auch die tun sich hart, Ehrenamtliche als Trainer und Funktionäre zu finden. Da verstehe ich schon, dass man die Motivierten, die man findet, zunächst mal im eigenen Verein einbinden will.“ Mit Bedauern stellt er insbesondere fest, dass die Bereitschaft immer geringer wird, regelmäßige Verpflichtungen einzugehen. Da sind kurzfristige Absagen oft an der Tagesordnung, weil sich eine bessere Option aufgetan hat. Damit können aber weder Vereine noch Schiedsrichter planen und arbeiten. „Wir können nur die Leute brauchen, auf die man sich auch verlassen kann. Alle anderen schmeißen das Handtuch meist schon beim Neulingskurs.“

2002 wurde zum ersten Mal moderne Technik eingesetzt



Auch die Ausbildung hat sich verändert. Die Regeln selbst werden immer komplexer, aber auch die Möglichkeiten verändern sich. Zur Anfangszeit der Schiedsrichtergruppe war nur eine theoretische Vermittlung der Spielregeln möglich. Die erste große technische Errungenschaft war wohl der Overhead-Projektor, dessen Einsatz insbesondere Deggendorfs Ehrenlehrwart und spätere BSO Franz Bachinger forciert hatte. Mit seinen Folien und auf der Taktiktafel präsentierte er den Neulingen das A und O der Unparteiischen. Erst 2002 wurde zum ersten Mal moderne Technik eingesetzt – Laptop, Beamer und Leinwand kamen ins Spiel. Der Bayerische Fußball-Verband stellte erstmals eine CD-ROM mit Powerpoint-Präsentationen zur Ausbildung bereit. Ein absolutes Novum zu der Zeit. Nach und nach gab es dann auch Videoszenen zu betrachten, sodass man passend zu den einzelnen Regeln auch Bilder vor Augen hatte.

18 Jahre später nutzte der heutige Verbandsschiedsrichterobmann (VSO) Prof. Dr. Sven Laumer die Einschränkungen der Corona-Pandemie und entwickelte mit seinem Team den ersten Online-Neulingskurs, der zentral für ganz Bayern abgehalten wurde. In einer Kombination aus Selbstlernphasen in Online-Modulen und Videositzungen brachte er über 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern das Handwerkszeug der Referees näher. Auch Markus Eglseder war im Hintergrund beteiligt, unterstützte bei den Videositzungen, beantwortete Fragen der angehenden Unparteiischen und war in der Korrektur mit eingespannt. „Das Konzept ist super und wir haben viel daraus gelernt und erfolgreiche Bestandteile auch in unseren regulären Neulingskurs eingebaut. Außerdem haben wir während der zweiten Lockdown-Phase auch selbst einen Online-Neulingskurs angeboten“, erzählt der Lehrwart. Einen Rekord stellte Laumer mit seinem Team im Jahr 2023 auf, als über 500 Personen am Online-Kurs teilnahmen.

Früher dauerten die Neulingskurse mehrere Wochen, in denen sich die Referees in die Regeln einarbeiteten. „Das haben wir zwischendrin versucht, zu ändern. Wir wollten den veränderten Ansprüchen Rechnung tragen, haben die Kurse komprimiert angeboten. Teilweise haben wir Neulingskurse auf zwei oder gar ein Wochenende reduziert“, blickt Eglseder zurück. Anfreunden konnte er sich damit nie zu 100 Prozent. „Da sitzt man dann zwangsweise acht Stunden am Stück da und soll 17 Fußballregeln durchdringen. Das ist aus meiner Sicht nicht nachhaltig. Aber was tut man nicht alles dafür, um zumindest ein paar Neulinge zu gewinnen.“

Deggendorfs Lehrstab hat vergangenes Jahr sein Ausbildungskonzept überarbeitet. Der Kurs dauert nun wieder einen Monat. Während dieser Zeit erarbeiten sich die Teilnehmenden die Regeln zunächst während vier Selbstlernphasen online. An sieben Präsenzterminen werden die wichtigsten Aspekte dann gemeinsam zusammengefasst. Wichtig ist auch der Gang aufs Spielfeld, wo Szenen nachgestellt werden können, wo gemeinsam das Spielfeld besichtigt wird und wo man das Gelernte mit Praxisbeispielen verknüpft. Dafür dauern die Sitzungen nicht so lang. Außerdem ist eine Spielbeobachtung geplant, in der ein erfahrener Schiri bei der Arbeit begleitet wird. Für heuer ist noch ein Modul zum Thema Gewaltprävention und Deeskalation geplant. Am Ende der Ausbildung steht die Laufprüfung und der Regeltest aus insgesamt 30 Fragen. Das Prüfungsformat aus zehn Single-Choice- und 20 Freitext-Fragen gibt es so schon sehr lange, 50 von 60 Punkten muss man dabei zum Bestehen erreichen.

Junge Schiris kämpfen oftmals mit Lesekompetenz



Auch beim Regeltest sind Probleme festzustellen, die es früher so wohl noch nicht gab: „Traurig aber wahr, die Lesekompetenz reicht oftmals nicht mehr aus. Insbesondere die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer tun sich hart damit, die komplex beschriebenen Szenen richtig zu interpretieren und zu verstehen. Das liegt sowohl an den komplexer werdenden Formulierungen aber auch daran, dass viele nicht mehr daran gewohnt sind, schwere Texte zu erfassen.“ In begrenztem Umfang wird natürlich auch bei der Prüfung geholfen, wenn es am Verständnis scheitert. Die richtige Antwort müssen die Prüflinge dann schon selbst fabrizieren.

Michael Erndl ist stellvertretender Obmann der Gruppe. Er kümmert sich gemeinsam mit Jan Eringer als Einteiler und Tobias Glashauser um die frischgebackenen Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter. „Wir lassen natürlich nach der Prüfung keinen allein. Jeder Neuling wird auf alle Fälle in den ersten drei Partien von erfahrenen Kameraden begleitet. Gemeinsam werden die ganzen organisatorischen Herausforderungen vor, während und nach dem Spiel gemeistert. In der Halbzeitpause und nach Schlusspfiff gibt es dann Tipps, damit die Neuen besser werden. Außerdem können unsere Coaches auch auf reklamierende Zuschauer und Trainer einwirken“, erzählt Erndl. Vor allem bei den Jüngeren ist aber nicht nach drei Spielen Schluss – hier wird solange gecoacht und betreut, bis sich die Neulinge wohl fühlen und alleine auf die Plätze trauen. Anschließend kommen aber trotzdem immer wieder Coaches der Gruppe vorbei, um auf die nächsten Altersklassen oder auf Einsätze im Herrenbereich vorzubereiten.

Tandem-Einsätze ist eine zusätzliche Variante



Seit ein paar Jahren gibt es auch die Möglichkeit zu sogenannten Tandem-Einsätzen. Dabei begleitet ein erfahrener Kollege den Neuling auf dem Platz, das Spiel wird zu zweit geleitet. In der ersten Halbzeit läuft der Neuling „nur“ hinterher, beobachtet und findet ins Spiel – während der erfahrene Kollege Chef am Platz ist. In der zweiten Halbzeit rückt der Pate in den Hintergrund und dient nur mehr zur Absicherung, wenn dem Neuling ein gravierender Fehler unterläuft oder er nicht weiter weiß. „Das machen wir nicht oft, aber wenn es angebracht erscheint, greifen wir auch gern auf diese Variante zurück“, erzählt Eglseder, der das erste Tandem-Spiel in Niederbayern geleitet hat.

Diese Art von intensiver Betreuung der Neuen gab es früher wohl noch nicht – die meisten Neulinge waren ja auch schon älter und kannten das Fußballgeschäft in und auswendig und hatten gar keine Hilfe notwendig. „Heutzutage stellt uns die intensive Betreuung aber vor große Herausforderungen, weil wir dafür eigentlich gar nicht die nötige Manpower haben. Aber trotzdem machen wir es gern, damit unsere Neulinge schnell besser werden“, gibt Erndl zu Protokoll.

Hemmschwelle bei Spielern und Fans immer niedriger



„Die meisten Anwesenden am Fußballplatz reagieren auch echt vorbildlich auf die jungen Neulinge. Wir haben ganz selten Probleme. Allerdings hat man auch immer wieder Unverbesserliche draußen“, berichtet Eglseder von einem besonders renitenten Vorstand eines Vereins: „Mein Lehrstabsmitglied Lukas Kainz erzählte mir, dass der Vorstand während des gesamten Spiels lautstark auf unseren Neuling einwirkte. Selbst durch die Ansprache von Lukas zeigte er sich unbeeindruckt. Ich habe dann Kontakt mit ihm aufgenommen und ihn gefragt, ob ich mich auch mal an den Spielfeldrand stellen und die Spieler anbrüllen soll. Schließlich hat auch der Sohn des Vorstands mitgespielt, der übrigens genauso alt wie unser Neuling war.“ Immer noch wütend über diesen Vorfall erzählt Eglseder weiter: „Der Vorstand hat überhaupt kein Fehlverhalten seinerseits erkannt. Es sei ja schließlich seine Aufgabe, den Unparteiischen auf Fehler hinzuweisen. Ob der jemals das Regelbuch schon von innen gesehen hat, wage ich aber zu bezweifeln.“ Solche Vorfälle gab es auch früher schon, das wissen die beiden aus Gesprächen mit erfahrenen Kameraden. Manchmal mag man aber schon den Eindruck gewinne, als wäre die Hemmschwelle mittlerweile niedriger – und als fehlte an mancher Stelle die Erkenntnis, dass auch der Schiedsrichter nur ein Mensch ist, der Fehler machen kann. Und: Dass es nicht in Ordnung ist, Jugendliche anzubrüllen, die sich an eine neue Aufgabe wagen und sich dafür eine echte Herausforderung ausgesucht haben.

Wichtig ist beiden Funktionären aber zu betonen, dass diese Vorfälle tatsächlich die absolute Ausnahme darstellen. „Klar wird mal kurz reklamiert, insgesamt haben wir aber ein echt gutes Verhältnis zu unseren Vereinen. Vor allem, wenn wir die Neuen in der Jugend rausschicken, klappt das in aller Regel sehr, sehr gut. Wir sitzen ja doch alle im selben Boot und haben das gleiche Ziel“, meint Michael Erndl.

− red


Zum Thema: Teil 1 – Leistungsschiri im Amateurfußball früher und heute: Was sich für die Unparteiischen geändert hat