37-Jährige hat „Usher-Syndrom“
Großer Traum von Para-Triathletin Anja Renner aus Neuburg wird wahr

08.05.2024 | Stand 08.05.2024, 13:13 Uhr
Julian Meier

Gutes Gespann: Para-Triathletin Anja Renner rechnet sich mit Guide Maria Paulig aus Ingolstadt Medaillenchancen für die Spiele in Paris aus. Foto: World Triathlon

Es war, als ob ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Ein Gefühl von Ohnmacht. So beschreibt Anja Renner den Moment, der ihr Leben für immer verändern sollte. Im Alter von 25 Jahren ging sie zum Augenarzt, sie hatte eine Bindehautentzündung – eigentlich harmlos.

Doch während der Untersuchung stellte der Arzt noch etwas anderes fest, das alles andere als harmlos ist: „Retinitis pigmentosa“, eine langsam fortschreitende Einschränkung des Blickfeldes, die irgendwann in der völligen Erblindung endet.
Doch damit nicht genug: Schon seit Geburt hat Renner eine Höreinschränkung. In Kombination spricht man vom „Usher-Syndrom“ – das war die Diagnose, mit der die gebürtige Neuburgerin seitdem leben muss. „Das ist schon erst mal ziemlich harter Tobak – gerade, wenn man anfängt, sich damit zu befassen“, sagt die 37-Jährige heute. Denn im schlimmsten Fall kann die Krankheit sowohl zur Erblindung als auch zur Taubheit führen. „Ich konnte mir damals nichts Schlimmeres vorstellen“, sagt Renner. „Bei mir ist es aber so, dass ich Typ zwei habe, bei dem das Hörvermögen nicht abnimmt, sondern gleich bleibt.“

Wie Renner „den Boden“ wieder gefunden hat
Der Boden unter ihren Füßen ist bei der jungen Frau zurück. Sie hat sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Aus ihrer Krankheit zieht sie Stärke; eine Kraft, die sie dieses Jahr nach Paris zu den Paralympischen Spielen führen wird. Denn Renner betreibt seit etwas mehr als einem Jahr professionell Para-Triathlon.

Und obwohl der Qualifikationszeitraum für Paris noch gar nicht vorbei ist, ist ihr die Teilnahme nicht mehr zu nehmen: Dank drei Weltcupsiegen, einem vierten Platz bei der WM in Pontevedra (Spanien) und einem fünften Platz bei der EM in Madrid (Spanien) belegt sie Rang zwei im Qualifikationsranking und kann nicht mehr aus den Top Neun rausfallen, die in die Seine-Metropole reisen dürfen.
Doch wie gelang ihr das, den Aufstieg zur international konkurrenzfähigen Para-Sportlerin innerhalb kürzester Zeit zu schaffen? Der Triathlon ist zugegebenermaßen kein Neuland für Renner. Im Alter von 30 Jahren begann sie als Altersklassen-Athletin, nachdem sie ihren Triathlon-begeisterten Freund und heutigen Ehemann kennengelernt hatte.

Schon bald stellten sich Erfolge ein, unter anderem qualifizierte sie sich für die Ironman-70.3-WM. Doch Renner wollte zu viel. Die rasche Steigerung des Trainingspensums brachte Verletzungen mit sich. Und dann kam auch noch ihre fortschreitende Erkrankung hinzu. „Ab 34 Jahren habe ich schon gemerkt: Jetzt nimmt die Seheinschränkung doch stark zu. Vor allem das Radfahren war ein Risiko, weil ich die anderen Teilnehmer links und rechts von mir einfach nicht sehen konnte“, erzählt Renner. Ende 2019 beschloss sie schließlich, den Sport aufzugeben.
Was folgten, war eine wettkampflose Zeit, geprägt auch von den Corona-Einschränkungen, und ein Fokus auf das eigene Schicksal. Renner begann, sich mit den Biografien von blinden Sportlern zu beschäftigen. „Mich hat einfach interessiert, wie sie das Leben meistern mit wenig oder gar keinem Sehvermögen. Das hat mich schon sehr beeindruckt“, sagt Renner. Das war der Moment, in dem erstmals das Thema Para-Sport aufkam. Nachdem auch ihr Mann und Freunde sie dazu ermutigten, es doch mal zu versuchen, kam der Stein ins Rollen.

Para-Triathletin Renner hat perfekten Guide gefunden
Mittlerweile ist die 37-Jährige im Paralympischen Kader und hat mit Maria Paulig aus Ingolstadt den perfekten Guide gefunden. Durch die Förderung der Sporthilfe und vielleicht demnächst Sponsorengelder kann sie vom Sport leben – ihren Job in der Krebsforschung hatte sie bereits zuvor gekündigt. Der Sport ist zu einem zentralen Bestandteil ihres Lebens geworden. „Ich bin einfach Sportlerin mit Leidenschaft. Mir hilft der Sport natürlich auch, mit meiner Erkrankung umzugehen. Es gibt in meiner Startklasse ein paar Athleten, die die gleiche Erkrankung haben. Es ist einfach schön zu sehen, dass es noch mehr so ‚Bekloppte‘ gibt wie mich, die den Sport trotz Handicap machen“, sagt Renner und lacht, bevor sie wieder ernst wird: „Ich möchte einfach mit gutem Beispiel vorangehen, andere Leute motivieren und Wege aufzeigen, dass es auch ein erfülltes Leben geben kann trotz irgendwelcher Einschränkungen.“
Die Wettkämpfe bis Paris will sie vor allem dazu nutzen, weiter an der Feinabstimmung mit ihrem Guide Paulig zu arbeiten; aber auch, um einen zweiten Guide aufzubauen, der einspringen könnte. Bereits jetzt läuft also die Vorbereitung für den Ernstfall: für den 2. September, wenn die Para-Triathletinnen in Paris an den Start gehen. Das Ziel für Renner ist klar: ein Podiumsplatz. Doch selbst wenn das nicht klappen sollte, wird ihr das nicht erneut den Boden unter den Füßen wegziehen: „Eine Medaille wäre super. Aber ich freue mich allein schon so darüber, dass ich die Reise überhaupt antreten darf. Das hat fast die größere Bedeutung für mich, eine Medaille wäre dann das i-Tüpfelchen.“