Strafstoß-Frust auf der Insel
„Es ist grausam“: Kane und das Elfer-Drama – ein Fehlschuss mit kurioser Vorgeschichte

11.12.2022 | Stand 17.09.2023, 21:02 Uhr

Frust pur nach dem Schlusspfiff. Harry Kane hockt kraftlos auf dem Rasen, beide Hände an den Kopf gepresst. −Foto: afp

Harry Kane und sein folgenschwerer Fehlschuss in den Nachthimmel von Al-Khor - es musste so kommen.

Nicht nur, weil die englische Fußball-Nationalmannschaft bei großen Turnieren fast traditionell vom Punkt scheitert (WM 1990, EM 1996, WM 1998, EM 2004, WM 2006, EM 2012, EM 2021), sondern auch, weil das Missgeschick von Kapitän Kane (84.) im WM-Viertelfinale gegen Titelverteidiger Frankreich (1:2) eine Vorgeschichte hat.

Das zeigt ein mehr als vier Jahre altes Video, das nach dem dramatischen Ende der englischen WM-Mission abermals durchs Netz geisterte. Damals sollte Rugby-Star Jonny Wilkinson im Rahmen der BBC-Wohltätigkeitsveranstaltung „Sport Relief“ Kane zeigen, „wie man eine WM gewinnt“. Beaufsichtigt wurde die Lehrstunde auf dem Fußballplatz von Comedian John Bishop.

Kane tritt also vom Punkt an - und haut den Ball links unten sicher ins Netz. Doch Wilkinson, dessen goldener Kick England 2003 zum Rugby-Champion gemacht hatte, schimpft: „Nein, nein, du machst alles falsch!“ Dass Kane protestiert („Aber er war doch drin!“), ficht ihn nicht an.

Wilkinson schreitet zur Tat und haut das Leder übers Tor. „So geht das!“ Kane wendet ein: „Aber der ging doch meilenweit drüber!?“ Naja, meint Wilkinson, „auf diese Weise habe ich die WM mit England gewonnen...“ Also tritt Kane erneut an - und jagt den Ball unter dem Applaus von Wilkinson in die Wolken. „Viel besser, Harry. So geht das!“ - „Sicher?“ - „Yeah!“

„Elfmeterschmerz ... schon wieder“

In Wirklichkeit war Kane nach seinem Fehlschuss untröstlich. Er hockte kraftlos auf dem Rasen, beide Hände an den Kopf gepresst, den Blick starr nach unten, niedergeschlagen, untröstlich. „Elfmeterschmerz ... schon wieder“, diagnostizierte der Mirror, nachdem Englands alte Fußball-Krankheit wieder ausgebrochen war. Aus nach einem verschossenen Elfmeter - diesmal erwischte es ausgerechnet den Kapitän der Three Lions, den erfolgreichsten Schützen vom Punkt in der WM-Geschichte.

Teammanager Gareth Southgate nahm Kane, den die Sun blitzschnell in „Harry Pain“ umtaufte, in den Arm und sprach ihm aufmunternde Worte ins Ohr. Der Mann weiß, wie man sich fühlt: Bei der Heim-EM 1996 hatte er mit seinem Fehlschuss alle englischen Titelträume beerdigt. „Es ist grausam für ihn“, sagte Southgate nach dem 1:2 (0:1) im Viertelfinale gegen Frankreich, „aber er hat sich nichts vorzuwerfen. Er würde morgen wieder schießen.“

Trösten konnte Kane aber nichts und niemand. „Es schmerzt, und es wird noch lange schmerzen, die WM ist nur alle vier Jahre“, sagte der 29-Jährige, der in seiner Karriere 58 Elfmeter verwandelte - und nur elf verschoss.

Trost spendeten auch nicht die beiden Rekorde, die ihm sein erfolgreich verwandelter erster Strafstoß des Spiels einbrachte. Mit seinem 53. Länderspieltor zog er mit Englands Rekordhalter Wayne Rooney gleich, zudem traf er als erster Spieler in der WM-Historie viermal während des laufenden Spiels vom Elfmeterpunkt.

Beim zweiten Versuch sechs Minuten vor Schluss drosch er den Ball aber über die Latte, und sogar Frankreichs Keeper Hugo Lloris fühlte Mitleid. „Ich weiß, dass er stark ist und es überwinden wird“, sagte der 35-Jährige, der seit neuneinhalb Jahren mit Kane zusammen bei Tottenham Hotspur spielt, „aber ich kann diesen Moment des Schmerzes nur mit ihm teilen.“

Seine alte Krankheit schien der englische Patient nach sechs verlorenen Elfmeterschießen in großen Turnieren eigentlich auskuriert zu haben, als er vor vier Jahren in Russland erstmals eines bei einer WM gewann. Doch im EM-Endspiel in Wembley 2021 kehrte das Leiden zurück. Am späten Samstagabend im „Beduinenzelt“ von Al-Khor griff es sogar auf die reguläre Spielzeit über.

„Viele Länder haben ähnliche Probleme“, behauptete Southgate, auf die Elfmeter-Seuche angesprochen. Der 52-Jährige ist nach dem vergleichsweise frühen Aus wieder mal in die Kritik geraten. Obwohl er erst vor gut einem Jahr seinen Vertrag bis zur EM 2024 in Deutschland verlängert hatte, ließ er seine Zukunft offen.

„Ich brauche Zeit, ich will die richtige Entscheidung treffen - für das Team, für England, für den Verband“, sagte der ehemalige Verteidiger, der den Weltmeister von 1966 vor vier Jahren ins WM-Halbfinale und vor 17 Monaten ins EM-Finale geführt hatte.

Unterstützung gab es nicht nur von Ex-Stürmerstar Alan Shearer („Habe keine Zweifel“), sondern auch von Kane: „Wir hoffen alle, dass er bleibt. Er war unglaublich, wir haben einen erstaunlichen Sprung gemacht.“

− sid/red