„Die Neulinge vermissen den Respekt“
DFB-Lehrwart Lutz Wagner spricht in Ingolstadt über Nachwuchsprobleme bei Schiedsrichtern und deren Ursachen

19.04.2023 | Stand 16.09.2023, 23:22 Uhr

Gut gelaunter Dank an den Referenten: Der ehemalige Ingolstädter Bundesliga-Schiedsrichter Werner Ross (links) und Kreis-Schiedsrichter-Obmann Hans Kroll (rechts) freuen sich über den Besuch von DFB-Lehrwart Lutz Wagner. Fotos: Roth

90 Minuten Vortrag machen hungrig. Die gerade auf seinem Platz bereitgestellte Currywurst ist für Lutz Wagner aber noch lange kein Grund, den Redakteur warten zu lassen. „Ich kann beides, fragen Sie ruhig“, sagt der Schiedsrichter-Lehrwart des Deutschen Fußball-Bundes, der als Gastreferent der Schiedsrichtergruppe Ingolstadt im Rahmen der Pflichtsitzung gerade die rund 130 Vereinsvertreter und Schiedsrichter in seinen Bann gezogen hat. Nach seinen humorvollen Ausführungen und Tipps zu verschiedenen Regelfragen beantwortet der 59-Jährige dann – unterbrochen von dem ein oder anderen Fotowunsch – Fragen zu ernsteren Themen wie dem fehlenden Respekt gegenüber Schiedsrichtern und den Gründen, warum viele Neulinge bereits nach kurzer Zeit das Amt schon wieder aufgeben.

Herr Wagner, mit Blick auf Ihre langjährige Erfahrung: Muss ein Schiedsrichter heute aus anderem Holz sein als früher?
Lutz Wagner: Es ist schon so, dass sich das Thema Respekt und die Begleitumstände auf den Plätzen sehr verändert haben. Und sicher nicht zum Vorteil. Aber das ist aus meiner Sicht kein Problem des Fußballs, sondern ein Problem unserer Gesellschaft.

Weil grundsätzlich Autoritäten weniger akzeptiert werden?
Wagner: Ja genau. Ich war erst vor wenigen Tagen bei einer Podiumsdiskussion mit dem Polizeichef von Dortmund, einer Psychologin und der ZDF-Reporterin Claudia Neumann. Da ging es um die Wertschätzung für Menschen, die einen Dienst an der Gesellschaft leisten. Ob es Feuerwehrleute, Polizisten oder andere sind, sie genießen einfach nicht mehr dieses Ansehen und den Stellenwert. Das ist aber die Grundvoraussetzung, damit diese Tätigkeit auch Spaß macht. Stimmen die Rahmenbedingungen nicht, verlieren wir die Leute wieder, das erleben wir eben auch bei den Schiedsrichtern.

Mit dem daraus resultierenden Nachwuchsproblem.
Wagner: Wobei wir gar nicht unbedingt das Problem haben, dass wir nicht genug neue Schiedsrichter bekommen, die bekommen wir. Aber viele verlassen uns nach einem Jahr schon wieder. Wir haben eine Untersuchung dazu gemacht und festgestellt, dass viele Neulinge mit den Zuständen auf den Plätzen und den Anfeindungen nicht klarkommen. Sie vermissen den Respekt und die Wertschätzung. Das sind die größten Probleme. Der Fußball versucht hier über die Paten den jungen Schiedsrichtern zu helfen, bekämpft damit – wenn wir ehrlich sind – aber nur die Symptome, nicht die Ursachen. Besser wäre ja eigentlich, wir bräuchten diese Paten gar nicht.

Immer wieder ist zu hören, dass das Problem schon im Jugendbereich seinen Anfang nimmt.
Wagner: Jedem muss klar sein, dass es bei den Jüngsten um Spaß gehen soll und in diesen Klassen nicht nur die Spieler, sondern auch die Schiedsrichter noch lernen und natürlich auch immer wieder mal Fehler machen. In solchen Situationen erhält der Spieler dann normalerweise Zuspruch. Macht der Schiedsrichter einen Fehler – Eltern sind hier mitunter leider ganz schlimm – wird er niedergemacht. Dabei lernt er in diesem Alter genauso wie die Spieler.

Wie kann der Fußball dieser Entwicklung entgegenwirken?
Wagner: Alle Beteiligten müssen erkennen, dass dies nicht etwa an den Schiedsrichtern liegt, sondern, dass der Fußball insgesamt ein Problem hat. Entsprechend müssen hier alle Instanzen zusammenhalten, egal ob Trainer, Betreuer, Mannschaftsverantwortliche, Eltern, Zuschauer – einfach alle. Die müssen einsehen: Wir müssen unsere Rahmenbedingungen verändern, um für die Schiedsrichter ein besseres Umfeld zu schaffen.

Damit der Schiedsrichter-Nachwuchs dann auch länger beim Fußball bleibt.
Wagner: Bundesweit würde ich sagen: Wenn 70 Prozent der Neulinge durchhalten würden, könnten wir die altersbedingten Abgänge gut kompensieren. Was uns wehtut, sind eben die, die so früh wieder aufhören, bevor sie die entsprechende Sicherheit erlangt haben.

In einem Punkt werden sich die Rahmenbedingungen im Sommer merklich ändern: Der Bayrische Fußball-Verband hat die Spesensätze im Schnitt um etwa 65 Prozent erhöht.
Wagner: Andere Landesverbände hatten vorher schon erhöht, jetzt hat Bayern nachgezogen. In einer beachtlichen Größenordnung, wie ich finde. Das ist natürlich sehr positiv. Ich kann verstehen, dass mancher Verein jetzt schnauft. Aber heute wird für alles bezahlt, für jeden Trainer, für viele Spieler – warum nicht auch für den Schiedsrichter? Bei den heutigen Benzinpreise müsste eigentlich jeder wissen, dass der Unparteiische bei einem Kilometergeld von 32 Cent sogar draufzahlt.

Als Lehrwart sind Sie bundesweit unterwegs und treffen unter den Schiedsrichtern sicher auf so manchen Zweifler. Wie überzeugen Sie die, dass sie weiter bereit sind, das Schiedsrichter-Amt zu übernehmen?
Wagner: Wenn jemand schon mal gesagt hat: „Ich mache es“, hat er als Erstes ja schon mal Mut bewiesen. Das ist eine gute Voraussetzung. Dann wünsche ich jedem gerade am Anfang eine gewisse Ausdauer, damit er dabei bleibt, denn das Amt bringt einem mit der Zeit einfach sehr viel. Ich habe durch die Schiedsrichterei so viel fürs Leben gelernt: sich einzuordnen, sich zugleich aber auch behaupten zu können, Verantwortung zu übernehmen und vieles mehr. Zudem kommt man natürlich herum und lernt viele interessante Leute kennen.

Welche Spiele sind Ihnen aus Ihrer Karriere denn besonders in Erinnerung geblieben?
Wagner: Das sind tatsächlich gar nicht unbedingt die großen Finals. Prägend war zum Beispiel das erste Spiel nach dem Freitod von Robert Enke, als beim Spiel Schalke gegen Hannover alle Spieler mit einer „1“ aufgelaufen sind und es mucksmäuschenstill war im Stadion. Da wird schnell klar, dass es Dinge gibt, die wichtiger sind als Fußball. Oder als ich auf dem Aachener Tivoli das erste Geisterspiel der Bundesliga gegen den 1. FC Nürnberg gepfiffen habe. Auch wenn manche Beschimpfung bei normalen Spielen wehtut, wie schlimm aber ist im Vergleich so eine Geisteratmosphäre? Da merkt man, dass Emotionen einfach zum Fußball gehören. Dann habe ich Spiele in Korea gepfiffen, den Respekt der Menschen dort spüren dürfen und das Land kennengelernt. Erlebnisse, die ich ohne die Schiedsrichterei nie gehabt hätte.

Das Gespräch
führte Norbert Roth.


Zur Person

Mit rund 450 Profispielen gehört Lutz Wagner zu den erfahrensten deutschen Fußball-Schiedsrichtern. Seine Karriere als Unparteiischer beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) begann 1991 und endete für den heute 59-Jährigen nach Erreichen der Altersgrenze im Jahr 2010. Seit dieser Zeit arbeitet der Hesse als Lehrwart und Schiedsrichterbeobachter für den DFB, kümmert sich um die Nachwuchsförderung und wird zugleich auch immer wieder von TV-Sendern als Regelexperte eingesetzt.