Nach 2:1-Sieg in der Ukraine
"Ich stehe über den Dingen". Eigenwilliger Löw verwundert Ex-Nationalspieler und Fans mit Taktik und Aussagen

11.10.2020 | Stand 19.09.2023, 1:49 Uhr

Bundestrainer Joachim Löw (60). −Foto: AFP

Erschöpft, aber erleichtert huschte Joachim Löw vor Sonnenaufgang ins Hotel am Rheinufer. Mit einem ausschweifenden Monolog in Richtung seiner Kritiker hatte der Bundestrainer wenige Stunden zuvor seinem Unmut Luft gemacht, auch der nächtliche Rückflug aus dem Corona-Hotspot Kiew ins Risikogebiet Köln hatte seine Spuren hinterlassen. Der Premierensieg in der Nations League verschaffte ihm zwar etwas Ruhe, doch acht Monate vor der EM hat Löw einige Baustellen.

Daher sah sich der 60-Jährige nach dem verdienten, aber glanzlosen 2:1 in der Ukraine zu einer Grundsatzerklärung in ungemütlichen Zeiten veranlasst. Seine Hauptbotschaft: "Ich sehe das große Ganze auf dem Weg zur EM. Wir haben einen klaren Plan. Wir wissen schon, was wir machen." Davon ist nicht mehr jeder überzeugt. Ob Rekordnationalspieler Lothar Matthäus, der frühere Bundestrainer Berti Vogts oder Rio-Held Bastian Schweinsteiger – sie alle wunderten sich über Löws Personalauswahl und Taktik.

Schweinsteiger ging in der ARD sogar soweit zu behaupten, die Öffentlichkeit könne sich derzeit "nicht mehr so 100-prozentig identifizieren" mit der Nationalmannschaft. Der Bundestrainer zeigte nach dem ersten Erfolg seit 326 Tagen Verständnis für die Zweifler, annehmen dürfte er vom Gesagten wenig bis nichts. Jeder könne Kritik äußern, sagte Löw: "Aber ich stehe über den Dingen. Dass es unterschiedliche Meinungen gibt, das erlebe ich seit 16 Jahren."

2004 hatte er als Assistent von Jürgen Klinsmann beim DFB begonnen. Beim aktuellen Neuaufbau lasse er sich "nicht von der Linie abbringen, weil man gegen Spanien 1:1 oder die Türkei 3:3 spielt", betonte er. Und: "Man muss sehen, wo wir herkommen. Nach der WM waren wir Ende des Jahres 2018 ganz weit unten." Diesen historischen Tiefpunkt nach dem Debakel in Russland sieht Löw allerdings als überwunden an. Dennoch sei es natürlich wichtig, "dass wir uns selber ständig hinterfragen und dann die Hebel ansetzen". Da gibt es trotz des ersten Erfolgs in der Nations League im siebten Anlauf vor dem Duell gegen die Schweiz am Dienstag (20.45 Uhr/ARD) einige Möglichkeiten. Viele Ballverluste, eine schwache Chancenverwertung, fehlende Automatismen - Aufbruchstimmung verbreitete das DFB-Team in Kiew gewiss nicht.

Deutliche Worte von Löw an Abwehrchef Süle

"Wir wissen auch, dass wir nicht die Sterne vom Himmel gespielt haben", sagte Torschütze Matthias Ginter (20.) und legte nach: "So einfache Fehler in der Häufigkeit - das kommt bei einer deutschen Nationalmannschaft selten vor." Ein besserer Gegner als die stark ersatzgeschwächte Ukraine hätte diese Nachlässigkeiten wohl bestraft. Nach dem von Niklas Süle plump verschuldeten und von Ruslan Malinowski (76.) verwandelten Foulelfmeter musste der viermalige Weltmeister sogar noch einmal zittern. "Da muss Nik Süle den Ukrainer nur begleiten. Es bestand keine Gefahr", richtete Löw deutliche Worte an seinen Abwehrchef.

Um diese und andere Dinge abzustellen, bleibt nicht viel Zeit. Nach der Landung um 3.52 Uhr am Flughafen Köln/Bonn stand der Sonntag ganz im Zeichen der Regeneration und Analyse. Die mangelnde Effizienz vor dem generischen Tor war dabei erneut ein wichtiger Ansatz. "Wir hätten es früher entscheiden können", räumte Serge Gnabry ein, der selber einige gute Chancen ausließ.

So reichte es vor 17.573 Zuschauern im Olympiastadion unter gütiger Mithilfe des ukrainischen Torwarts Georgij Buschtschan nur noch zu einem Treffer von Leon Goretzka (49.). Die fehlende Durchschlagskraft könnte auch daran gelegen haben, dass Löw trotz des allenfalls mittelmäßigen Gegners auf eine Dreier- bzw. Fünferkette setzte. "Wir hätten nicht immer fünf Verteidiger und drei Innenverteidiger gebraucht", sagte ARD-Experte Schweinsteiger und sieht Spielraum, "um sich das Leben einfacher zu machen". Auch Gnabry hätte sich eine mutigere Herangehensweise gewünscht. "Kraft in der Offensive schadet nie", stellte der Münchner fest.

Weitere Erfolge sollen nun mehr Selbstvertrauen geben und das angekratzte Image aufpolieren. "Siege sind der Klebstoff, Siege sind wichtig", sagte Löw. Auch Schweinsteiger hofft, "dass das Ruder wieder rumgerissen wird". Und zwar schon gegen die Schweiz. "Ich werde bei der Startaufstellung nicht viel ändern", verriet Löw. Das bedeutet auch, dass Toni Kroos (99 Länderspiele) am Dienstag dem erlauchten Klub der Hunderter beitreten wird. Daran gibt es ausnahmsweise mal nichts zu kritisieren.

− sid