Ein Leben im Löwenstüberl: Mit ihr geht ein Stück Geschichte des TSV 1860 München

30.12.2018 | Stand 19.09.2023, 0:48 Uhr
Martin Moravec

Christl Estermann im Löwenstüberl: 27 Jahre lang hat die Münchnerin die Vereinsgaststätte nicht nur bewirtschaftet – für ganze Spielergenerationen war sie wie eine Mama. −Fotos: Lino Mergeler/dpa

Vor ihrem letzten Tag im Löwenstüberl hat Christl Estermann ein bisschen Angst. Mehr als 25 Jahre hat sie die mittlerweile legendäre Gaststätte auf dem Trainingsgelände des TSV 1860 München geführt und ist unter Löwen-Fans selbst zu einer kleinen Legende geworden. Wie aber wird das sein, wenn man sich von einem Teil der eigenen Identität verabschiedet?

Ihre beiden Töchter hätten ihr schon eine ganze Weile lang geraten, dass es an der Zeit sei zu gehen, erzählt die 75-Jährige der Deutschen Presse-Agentur. "Mama, es reicht, du hast lange genug gearbeitet, mach es dir jetzt schön." Nur da gibt es aus Sicht der Christl, die eigentlich Christa mit Vornamen heißt, eben ein gewaltiges Problem: "Schön ist es nur im Löwenstüberl."

Der Entschluss Estermanns kam nicht plötzlich. Schon vor zwei Jahren wollte sie aufhören, machte dann aber doch weiter. "Einmal Löwe, immer Löwe", heißt schließlich der Schlachtruf des in die 3. Liga abgestürzten Traditionsvereins. Vor zwei Monaten verkündete Estermann ihren endgültigen Abschied, am Montag sperrt sie das gemütliche wie renovierungsbedürftige Wirtshaus ein letztes Mal ab. "Es tut mir furchtbar weh, dass ich aufhöre", schluchzt Estermann. "Das ist meine Heimat, mein Wohnzimmer."

Um zu verstehen, welchen Stellenwert sie über die Jahrzehnte bei den stolzen und chaotischen Löwen aus dem Münchner Stadtteil Giesing gewonnen hat, muss man sich nur ihre Verabschiedungen ansehen.

Eine gab es im Löwenstüberl selbst, als ehemalige Größen wie Werner Lorant, Manfred Schwabl oder Benny Lauth persönlich "Servus" sagten. Eine zweite gab es im letzten Heimspiel vor der Winterpause, da trat Estermann wie ein verdienstvoller Spieler vor die Fankurve, ließ sich bejubeln und verteilte Handküsse. Als Geschenk gab es ein Bild, das sie als Bavaria zeigt, die Patronin Bayerns.

Anfang der 90er lockte der damalige Vereinspräsident Karl-Heinz Wildmoser die Christl zu den Löwen. Sie kam eigentlich aus der Textilbranche, machte dann aber mit einer Kneipe nicht weit weg von den Sechzigern auf sich aufmerksam. Das Löwenstüberl wurde mit Estermann Kult. Die Presserunden fanden damals noch am Stammtisch der Gaststätte statt, Wildmoser und Bayern-Ikone Franz Beckenbauer führten der Legende nach in der Stube Verhandlungen und die Spieler ließen sich die Spezialität des Hauses, Schinkennudeln, schmecken.

"Das war noch ein echtes Vereinsleben", erinnert sich Lorant an die Neunziger, als unter ihm, Wildmoser und irgendwie auch der Christl die Löwen in der Tabelle sogar mal vor dem verhassten Rivalen FC Bayern standen. Das ist aber lange her. Beim TSV 1860 gab es längst mehrere Ausverkäufe, im Löwenstüberl nun auch. Kleine Zettel mit der Aufschrift "verkauft" hängen an den Bildern im Gastraum. Für das Inventar hat Christl in ihrer Wohnung einfach keinen Platz.

Lorant zufolge war sie "immer freundlich, immer für die Spieler da". Und direkt war sie ihnen gegenüber zweifellos auch. "Es war ja so, als ob ich ihre Mutter gewesen wäre, nur die Brust habe ich ihnen nicht gegeben", sagt Estermann lachend, die nach eigener Rechnung in 27 Jahren Löwenstüberl 27 Trainer hat kommen und gehen sehen.

Einen neuen Pächter gibt es für den Flachbau direkt am Haupteingang noch nicht. Vielleicht braucht auch das Lokal selbst erstmal etwas Zeit, um damit klarzukommen, dass die Christl nicht mehr die Geschäfte führt. "Ich denke doch, dass das Leben für mich weitergeht", sagt Estermann zum Abschied. Ganz sicher ist sie sich aber nicht.

− dpa