Der Mann für die "kleinen" Spiele
Ein halbes Jahrhundert für die Fußball-Basis: Erhard Neumeiers erstaunliches Schiedsrichter-Leben

01.03.2022 | Stand 19.09.2023, 3:10 Uhr

Kein Mann fürs Rampenlicht ist Erhard Neumeier. Er hält sich auch auf dem Spielfeld eher zurück – und genießt, mit 75 Jahren immer noch als Schiedsrichter pfeifen zu können. −Fotos: Archiv Nagl/Müller

Seit einem halben Jahrhundert ist Erhard Neumeier (75) Schiedsrichter. Große Ambitionen hegte er dabei nie, es geht ihm ums Spiel und die Kameradschaft. Der Dienst an der Pfeife beschert ihm schöne Momente – und hält ihn körperlich und geistig fit.

Wie viele Spiele er schon geleitet hat? Erhard Neumeier winkt ab: "Sie fragen mich Sachen." Man muss ihm zugute halten: In einem halben Jahrhundert an der Pfeife kann man schon mal den Überblick verlieren. "In den ersten zehn Jahren waren es bestimmt 1000 Spiele. Über die gesamte Zeit im Schnitt vielleicht 60 pro Jahr." Nachzählen lässt sich das heute nicht mehr. Was auch daran liegt, dass einige Partien, die der Osterhofener geleitetet hat, in keiner Statistik auftauchen. "Ich war nie Leistungsschiedsrichter und wollte auch nie einer sein", sagt Neumeier.

Jugend-, Reserve- und unterklassige Damenspiele, aber auch Schulmeisterschaften – er übernimmt die Partien, für die sich immer öfter kein Unparteiischer mehr findet. Neumeier ging es schon immer mehr ums Spiel als um seinen eigenen Aufstieg. "Die Kameradschaft stand für mich beim Fußball im Vordergrund." Er kann nicht ohne.

Neumeier verliert vier Zähne – und hört sofort mit dem Fußball auf

Mit Anfang 20 ist Neumeier Torwart bei der SV Aicha. Er hat große Freude daran – bis ihm mit 24 ein Gegenspieler vier Zähne ausschlägt. "Das war mir dann doch ein bisschen zu ruppig." Neumeier hört sofort mit dem Fußball auf. Ein Jahr hält er ohne durch – und kehrt dann als Unparteiischer zurück. Als langjähriger Volleyballschiedsrichter hatte er bereits Erfahrung gesammelt. "In Altenmarkt haben sie so lange auf mich eingeredet, bis ich die Prüfung gemacht habe. Und ganz ehrlich: Ohne Fußball war’s mir auch ein bisschen fad."

Er könnte nun den harten Hund, den Rächer seiner vier verlorenen Zähne spielen. Doch das Gegenteil tut er. In seinen Anfangsjahren, das gibt Neumeier heute zu, sei seine Linie auf dem Feld viel zu inkonsequent gewesen. "Mir war immer wichtig, dass alle miteinander auskommen und genauso habe ich auch ein Spiel geleitet. Das wurde gnadenlos ausgenutzt. Man glaubt nicht, wie viele hinterfotzige Spieler es gibt." Ein Problem sei aber auch die Ausbildung gewesen. "Ein Schiedsrichter braucht ein Handwerkszeug, damit er eine eigene Linie entwickeln kann. Das hat man uns nicht beibringen können."

Der Dienst an der Pfeife als Ausgleich für den Arbeitsalltag

Neumeier geht dennoch seinen Weg, stellt sich in den Dienst des "kleinen" Fußballs. Als leitender Angestellter bei einem bayerischen Automobilhersteller steht er unter großem Druck. Den will er sich auf dem Platz nicht auch noch machen. "Für mich war die Schiedsrichterei immer der Ausgleich für die Arbeitswoche."

Auch ohne Ambitionen bekommt Neumeier Einsätze, von denen er noch heute gern erzählt. Da ist diese Partie vor ein paar Jahren in Aldersbach, als eine Auswahl der katholischen Kirche gegen ein Team aus niederbayerischen Bürgermeistern antrat. "Ein super Spiel", sagt Neumeier. Eine vergoldete Münze aus dem Vatikan, die er dort zum Dank bekommen hatte, erinnert ihn auch daran: Ohne Fußball geht’s nicht.

Als Neumeier vor 13 Jahren in Rente geht, hört er auch als Schiedsrichter auf. 37 Jahre lang hatte er für die Gruppe Deggendorf gepfiffen. "Dann kam das tiefe Loch." Eigentlich sei er für psychische Probleme nicht anfällig, sagt er. "Aber wenn von einem Tag auf den anderen der komplette Druck abfällt, lässt sich das kaum vermeiden." Für ihn ist klar: Er muss wieder zurück auf den Platz, doch in Deggendorf sieht er keine Zukunft. "Ich brauchte einen Schlussstrich, ein neues Gebiet. Mich hat alles angekotzt." Neumeier wechselt nach Passau und findet dort den Spaß am Pfeifen wieder. Weil dort aber Reservespiele nicht mehr besetzt werden, er immer weniger Einsätze bekommt, kehrt er vor drei Jahren nach Deggendorf zurück, pfeift jetzt für die Spvgg Osterhofen.

Lösung für Schiedsrichtermangel? "Gibt’s nicht"

Dort gibt er den jungen Schiedsrichtern Tipps – und blickt mit Sorge auf den Nachwuchsmangel: "Ich kann schon verstehen, dass sich junge Menschen das nicht mehr antun wollen." Der Druck sei für diese Generation schon abseits des Rasens groß. "Auf jedem Fußballplatz gibt es ein paar Verrückte, die dem Schiedsrichter das Leben zur Hölle machen." Es sei aber auch ein Problem, dass viele Nachwuchskräfte schnell aufsteigen wollen. "Das Gleichbleibende ist nicht interessant, das ist auch legitim. Aber nicht jeder kann immer ein Spitzenspiel bekommen. Nicht jeder Tag ist ein Sonntag." Ob er eine Lösung für das Problem habe? "Gibt’s nicht."

Also muss Neumeier weiter ran, will er ja auch, trotz gesundheitlicher Rückschläge. Er hatte einen Schlaganfall, einen Herzinfarkt und einen Herzstillstand. Weil seine Frau und die Ärzte immer blitzschnell gehandelt haben, hat er keine größeren Schäden davongetragen. Der Rücken macht Neumeier zunehmend Probleme, aber mit Gymnastik und täglichen Einheiten auf dem Ergometer hat er sie im Griff. In den kommenden Wochen kann er nach langer Winterpause dann auch endlich wieder regelmäßig auf den Rasen. Aufhören kommt für Erhard Neumeier sowieso nicht in Frage: "Bis 80 schaffe ich’s noch – sofern der Herzschrittmacher mitmacht."

Dieser Text ist Teil der PNP-Serie über Schiedsrichter der Region und deren besondere Geschichten. Bereits er schienen sind zum Beispiel Porträts über die Katharina Schwitz, Franz-Xaver Ritzinger und die Familie Kis.