Nach Disqualifikations-Flut
"Skandal", "Desaster", "Imageschaden": Riesen-Diskussion um Anzug-Kontrolle bei Skispringern

08.02.2022 | Stand 08.02.2022, 10:37 Uhr

DSV-Sportdirektor Horst Hüttel fand ebenfalls deutliche Worte: "Die vier größten Nationen sind ja nicht alle bescheuert und wollen manipulieren. So macht man die Sache ein Stück weit kaputt." −Foto: dpa

Der langjährige Skisprung-Materialkontrolleur Joseph Gratzer hat die Vorkommnisse beim olympischen Mixed-Wettbewerb verurteilt und seinen Nachfolger Mika Jukkara schwer kritisiert.

"Das war ein Desaster!", sagte Gratzer der "Tiroler Tageszeitung", nachdem fünf Frauen um Katharina Althaus für ihre regelwidrigen Anzüge disqualifiziert wurden. Die Schuld dafür trägt in Gratzers Augen auch sein Nachfolger. "Ich habe den Eindruck, dass er von heute auf morgen alles verändern und die Kontrolltätigkeit anders anlegen will. Für mich ist er momentan nicht der richtige Mann auf dem Platz, da hat man sich wohl geirrt", sagte der Österreicher Gratzer.

Der 66-Jährige gab den Posten erst mit Ende der vergangenen Saison im März 2021 ab. Über seine Zeit und den krassen Kontrast am Montagabend in Zhangjiakou sagte Gratzer: "Unsere Prämisse war immer: Die Materialkontrolle darf in einem Wettkampf nie ganz im Vordergrund stehen. Sie ist eine Randerscheinung, die Fairness und Chancengleichheit garantiert. Das ist offensichtlich in diesem Fall nicht gelungen."

Österreich, Japan, Norwegen und Weltmeister Deutschland hatten so kaum noch Medaillenchancen, das deutsche Quartett um Althaus schaffte es nicht einmal in den zweiten Durchgang.

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Nachdem sie nicht nur Katharina Althaus ins dunkle Tal der Tränen befördert hatte, war die meistgehasste Frau des Skispringens mit ihrer Tagesbilanz zufrieden. "Das ist mein härtester Tag in zehn Jahren als Materialkontrolleurin gewesen", sagte Agnieszka Baczkowska: "Ich muss aber dafür sorgen, dass alle die gleichen Chancen haben, denn es geht um Gerechtigkeit."

Baczkowska, seit bald zwei Jahrzehnten im Skisprung-Hintergrund tätig, steht plötzlich im Mittelpunkt. Schon am Samstag hatte sie im Frauen-Einzel die Österreicherin Sophie Sorschag wegen unzulässig überklebter Sponsorenlogos disqualifiziert. Zwei Tage später musste "Aga" Interview um Interview geben. Den Wirbel verstand sie nicht.

"Was soll ich denn machen, wenn jemand mit einem zehn Zentimeter zu großen Anzug springt? Also bitte! Das sieht man ja schon mit bloßem Auge", sagte die studierte Anglistin und Sportwissenschaftlerin. Die Kritik an ihrer Person returnierte Baczkowska via Frontalangriff auf die Betroffenen: "Ich hätte nicht gedacht, dass dies bei Olympia passieren kann. Ich war davon ausgegangen, dass sich die Teams vorbereiten und den Wettkampf ernst nehmen."

Mario Stecher, Sportdirektor der ebenfalls betroffenen Österreicher, bestätigte dann auch unfreiwillig, dass die Teams das Regelwerk eher als unverbindliche Empfehlung ansehen. "Im Weltcup gibt es teilweise Anzüge, die so groß sind, dass man glaubt, man ist beim Tiroler Zeltverleih", polterte er: "Bei Olympia greift man schließlich rigoros durch. Da muss ich mich schon fragen, ob das der richtige Weg ist."

Von vielen Aktiven und Experten hagelte es derweil Kritik an der FIS. "Bei Olympia fangen sie an, anders oder mehr zu messen. Für mich ist es ein Kasperletheater. Das ist nicht mehr im Sinne des Sports", schimpfte ein schwer geschockter Männer-Bundestrainer Stefan Horngacher im ZDF.

Die disqualifizierte Althaus erhob nach der skandalösen Disqualifikations-Flut schwere Vorwürfe in Richtung des Weltverbandes. "Wir haben uns so darüber gefreut, dass wir einen zweiten Wettkampf hier bei Olympia haben. Die FIS hat das mit dieser Aktion zerstört. Ich finde, die haben das Damen-Skispringen zerstört", sagte die 25 Jahre alte Oberstdorferin am Montagabend: "Ich weiß nicht, was die damit bezwecken wollen. Unsere Namen stehen jetzt alle da, wir haben einfach die Arschkarte gezogen. Damit macht man Nationen kaputt, Förderungen, und den ganzen Sport unfair", sagte Althaus. Sie sei schon "so oft kontrolliert worden in elf Jahren Skisprung, und ich wurde kein einziges Mal disqualifiziert. Ich weiß, mein Anzug hat gepasst."

Auch Österreichs sportlicher Leiter Mario Stecher sah einen "immensen Imageschaden für das Skispringen." DSV-Sportdirektor Horst Hüttel fand ebenfalls deutliche Worte: "Die vier größten Nationen sind ja nicht alle bescheuert und wollen manipulieren. So macht man die Sache ein Stück weit kaputt." Althaus hatte bei der vor dem Sprung durchgeführten Kontrolle noch grünes Licht erhalten. "Wir sind alle stocksauer. Katha sagt, sie ist solange durchgecheckt worden wie noch nie. Sie sagt: Solange, bis etwas gefunden wurde", erklärte Hüttel.

Entsprechend kurios fiel das Endergebnis aus: Gold für Topfavorit Slowenien mit Peter Prevc, Einzel-Olympiasiegerin Ursa Bogataj, Timi Zajc und Nika Kriznar war noch zu erwarten gewesen. Silber für das russische Team und vor allem Bronze für Kanada waren dagegen völlig skurril.

In den Fokus rückte neben Frauen-Kontrolleurin Aga Baczkowska auch der für die Männer verantwortliche Mika Jukkara, der zu Saisonbeginn Sepp Gratzer abgelöst hatte. "Der neue Kontrolleur hat die Kontrollen extrem verschärft – gefühlt auch sehr verschärft für die deutschen Skispringer. Das Prozedere ist von der FIS nicht besser geworden, sondern schlechter", sagte Horngacher.

Besonders bitter: Der am Montag noch so enttäuschende Geiger bejubelte gerade seinen starken Sprung, der Rang zwei zur Halbzeit bedeutet hätte, als die Schock-Nachricht kam. "Ich habe es erst gar nicht mitbekommen. Ich habe mich über meinen Sprung gefreut", sagte Geiger: "Es ist mega skurril, dass so viele raus sind. Das ist eine harte Nummer."

Ähnlich sah das Hüttel. "Hier wurde heute mit anderen Maßstäben kontrolliert, eine andere Erklärung haben wir nicht. Das ist totaler Schlamassel. Die Athletinnen so vorzuführen, ist starker Tobak. Das ist ein Stückweit skandalös und wirft kein gutes Bild auf den Sport, weil es keiner versteht."

Auch der frühere Skisprung-Bundestrainer Werner Schuster übte deutliche Kritik an den Verantwortlichen . "Meine Hoffnung ist, dass dieses Springen ein Anlass ist, um noch einmal über die Bücher zu gehen und zu fragen: Wie bekommen wir mehr Transparenz herein? Gleichzeitig aber auch: Wie machen wir Werbung für den Sport?", sagte der Österreicher bei Eurosport. "Es wurde eine große Chance vertan. Erstmals ein Mixed-Wettbewerb bei Olympia – und dann fällt man solche Entscheidungen. Das kommt ganz schlecht rüber."Es wirft ein schlechtes Licht auf die FIS. Das muss man klar sagen. Es ist nicht nur ein schlechtes Licht auf dem Sport, sondern auch auf der Fis. Sie haben es im Vorfeld versäumt, sich abzustimmen, um zusammen ordentlich zu agieren und die Sportart zu repräsentieren", sagte Schuster über den Ski-Weltverband.

Noch deutlicher wurde der frühere Frauen-Bundestrainer Andi Bauer. "Das ist ein Desaster für unsere Sportart", sagte das heutige Mitglied der Materialkommission und des Sprungkomitees der Fis in einem Interview der "Stuttgarter Zeitung" und "Stuttgarter Nachrichten" (Dienstag). Es seien vier Weltklasse-Athletinnen vor einem Millionenpublikum regelrecht vorgeführt worden. "So darf sich eine Sportart auf der weltgrößten Bühne des Sports nicht präsentieren. Das war ein Skandal", rügte Bauer die Verantwortlichen.