Geschichte
40 Jahre Pershing-Protest: Menschenkette über 108 Kilometer

21.10.2023 | Stand 23.10.2023, 6:21 Uhr

Als Hunderttausende vor 40 Jahren eine Menschenkette bildeten, war Sonnhild Thiel mittendrin. Die Friedensaktivistin und Zeitzeugin blickt zurück auf den riesigen Protest - der eigentlich ein Kompromiss war.

Sie fassten sich an den Händen und überbrückten so 108 Kilometer von Stuttgart bis nach Neu-Ulm: Der Protest gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen in Form der wohl ersten und größten Menschenkette Deutschlands jährt sich am Sonntag zum 40. Mal. Der Händedruck sei immer noch das Erste, woran sie denke, wenn sie sich an den Protest erinnere, schilderte die Friedensaktivistin und Zeitzeugin Sonnhild Thiel vor dem Jahrestag. «Das war ein unheimlich starkes Gefühl», erzählte sie. «Verbunden zu sein mit Tausenden Menschen, die sich einsetzen für Frieden.» Rund 300 000 Menschen waren es dem Verein Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte Kriegsgegner:innen (DFG-VK) zufolge. «Das werde ich nie vergessen», sagte Thiel.

Die Menschenkette zwischen der europäischen Kommandozentrale in Stuttgart-Vaihingen und den atomar bestückten Wiley Barracks in Neu-Ulm war laut Thiel aber erst einmal eine umkämpfte Aktion innerhalb der Friedensbewegung. «Eigentlich war die Menschenkette ein Kompromiss», erzählte die Seniorin. Die einen hätten eine große Demonstration bevorzugt, die anderen wollten eine Blockade veranstalten. Thiels inzwischen gestorbener Ehemann Ulli schlug damals die Menschenkette vor, um die beiden Lager zusammenzubringen. «Zuerst haben die Leute uns den Vogel gezeigt», schilderte die Aktivistin. Doch es sei die Gabe ihres Mannes gewesen, Menschen zu überzeugen. Dann sei die Aktion zum Selbstläufer geworden.

Hinter der großen Menschenkette habe ein riesiger Organisationsaufwand gesteckt, erinnerte sich Thiel. Rund ein halbes Jahr vorher habe der Landesvorstand der Aktivisten bereits daran gearbeitet, bald hätten auch Gruppen vor Ort mitgeholfen. «Da war so eine Dynamik drin», erzählte Thiel. Und dann habe es geklappt, mit öffentlichen Verkehrsmitteln seien Leute angereist, um sich in die Menschenkette einzureihen.

Dass die Pershing-II-Raketen trotz der Proteste in Neu-Ulm stationiert wurden, habe die Aktivisten erst einmal enttäuscht, sagte Thiel. Die Hoffnung dürfe man aber niemals aufgeben, man müsse immer weitermachen. Auch Thiel mache immer weiter. Heute protestiere sie etwa mit Fridays for Future. Der Friedensbewegung habe sie nie den Rücken gekehrt. Auch heute ist sie noch überzeugt: «Waffen bringen uns nicht weiter.»

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