Mann mit WM-Mission: Leon Draisaitl – ein spezieller Eishockey-Superstar im Porträt

10.05.2019 | Stand 18.09.2023, 22:05 Uhr

Zum Aufwärmen darf’s auch mal der Fußball sein: Leon Draisaitl in Deggendorf. Weniger fokussiert ist der Blick deswegen nicht. −Foto: Ritzinger

Am Freitagabend beginnt die Eishockey-WM in der Slowakei. Vor dem Turnier ruhen die deutschen Hoffnungen auf Leon Draisaitl (23) – längst wird er mit den Großen des Sports verglichen. Doch er schreibt an seiner eigenen Geschichte.

Er könnte zumindest kurz winken. Immerhin schallt gerade sein Name durch die Deggendorfer Eishalle. Immer wieder, immer lauter. Doch Leon Draisaitl (23) gleitet vom Eis. Gesenktes Haupt. Kein Winken. Direkt in die Kabine. Als würde der Rummel um seine Person ihn selbst, den Mittelstürmer, am wenigsten interessieren.

Der gebürtige Kölner hat eine Traum-Saison in der NHL hinter sich. 50 Tore, 55 Assists – in der besten Eishockey-Liga der Welt. Nur drei Spieler waren besser als Draisaitl. Hinter ihm: Sidney Crosby, Alexander Owetschkin – Legenden des Sports. Über 100 Scorerpunkte in einer Saison, das haben in den vergangenen zehn Jahren überhaupt nur elf Spieler geschafft. Bei den Edmonton Oilers, seinem kanadischen Team, feiern sie Draisaitl als den "German Gretzky". Die deutsche Version der Klub-Legende, die mit den Oilers in den 1980ern viermal den Stanley Cup gewann. Eine große deutsche Tageszeitung taufte ihn den "Eis-Nowitzki". Große Namen – großer Druck?

"Ich glaube, ich bekomme das ganz gut hin." Es ist Ende April. Draisaitl steht in Flip-Flops und kurzer Hose im Presseraum des Deggendorfer Eisstadions. Draußen meldet sich der Sommer das erste Mal in diesem Jahr, drinnen trainiert die deutsche Nationalmannschaft für die Eishockey-WM in der Slowakei. Draisaitl ist erst seit wenigen Tagen in Deutschland. Seinen Augen sieht man das an. Mit den Oilers hat er die NHL-Playoffs verpasst - mal wieder, daran konnte auch er nichts ändern. "Klar freue ich mich über meine Saison", sagt er, während sein müder Blick im Raum nach Halt sucht. "Aber am Ende ist Eishockey ein Teamsport. Ich würde Scorerpunkte abgeben, um dafür in den Playoffs zu stehen."

Er könnte sich nun erholen, in den Flip-Flops und der kurzen Hose irgendwo Urlaub machen. Kraft tanken für den nächsten Anlauf auf die NHL-Playoffs. Stattdessen steht er hier: Deggendorf, Niederbayern. Draisaitl hat sich für die Reise mit der Nationalmannschaft entschieden. Im Optimalfall dauert die bis Ende Mai. Wieso tut er sich das an?

Februar 2018. Als das deutsche Olympia-Team in Südkorea sensationell Silber holt, sitzt Draisaitl in Nordamerika fest. Man kann das so sagen. Die NHL-Klubs erteilen ihren Spielern eine Olympia-Sperre, die Liga geht – wie so oft in Amerika – vor. "Es tut natürlich weh, ich wäre sehr, sehr gerne dabei", sagt Draisaitl damals. Drei Monate später, bei der WM in Dänemark, darf der Kölner dann spielen – wie viele andere NHL-Stars. Deutschland scheidet in der Vorrunde aus. Die Eishockey-Euphorie verpufft, noch bevor Draisaitl Teil davon werden konnte.

Ihn wurmt das immer noch, das merkt man dem Linksschützen auch in den Tagen von Deggendorf an. Samstagabend, kurz vor dem Eröffnungsbully des Länderspiels gegen Österreich. Bei der Nationalhymne steht Draisaitl ganz rechts in der Teamreihe. Er singt nicht mit. Sein Blick ist so stechend, er könnte damit das Eis zum Schmelzen bringen. Leon Draisaitl, ein Mann auf einer Mission. Er wird gleich drei Tore schießen, eines schöner als das andere. Der Jubel: ein verhaltenes Lächeln. "Ich glaube nicht, dass das mit dem Toreschießen jetzt so weitergeht", wird er hinterher sagen – und als einer der ersten Spieler die Halle verlassen. Ein bisschen ist es auch die Flucht vor sich selbst.

Die hohen Ansprüche, sie begleiten Draisaitl praktisch schon sein ganzes Leben. Das bringt schon der Name mit sich. Vater Peter zählt in den Neunzigern zu den besten Spielern der DEL. Im Frühjahr 1995 wird er mit den Kölner Haien Deutscher Meister. Ein paar Monate später, im Oktober, kommt Sohn Leon zur Welt. Und der zeigt schon früh, dass er nicht nur den Nachnamen seines Vaters geerbt hat, sondern vor allem: Talent.

Mit 13 wechselt Leon von Köln nach Mannheim. In der Schüler-Bundesliga schießt er einmal 97 Tore in 29 Saisonspielen und bereitet 95 weitere vor. Das ist 2011. Ein Jahr später wird er Deutscher U18-Meister mit den Jungadlern. Zusammen mit seinem Sturmpartner und heutigen Nationalmannschaftskollegen Dominik Kahun nimmt er die Liga auseinander − und wechselt danach nach Kanada. Mit 16. Zwei Jahre spielt er für die Prince Albert Rangers in der WHL, der Top-Junioren-Liga in Kanada. 2014 verpflichten ihn die Edmonton Oilers – als insgesamt dritten Spieler des sogenannten Entry Drafts. Nie wurde ein Deutscher früher gezogen.

Doch Draisaitl tut sich zunächst schwer, wird zum Jugendteam abgeschoben. Kommt die NHL zu früh für ihn? Hat er am Ende doch nur von seinem großen Namen profitiert? Fragen, mit denen er sich auseinandersetzen muss.

Heute klingt das so: "Leon ist das größte Eishockey-Talent, das Deutschland je hatte", sagt Ex-Bundestrainer Uwe Krupp. Und Nationalmannschaftskollege Korbinian Holzer schwärmt: "Leon ist ein spezieller Spieler, das sieht jeder Zuschauer." Wie elegant und gleichzeitig unscheinbar er sich über das Eis bewege und dann im richtigen Moment zuschlage, sei beeindruckend.

Auch wenn Draisaitl das selbst nicht wahrhaben will: Ihn umgibt schon jetzt die Aura eines Stars - nicht nur auf dem Eis. In seinen tiefen grün-blauen Augen glaubt man die große Zukunft sehen zu können, die er vor sich hat. Mit seinem massiven Oberkörper füllt er Räume aus. Ein Typ mit dem Zeug zum Topstar.

In Edmonton, Kanada, ist er das längst. Er hat dort 2017 einen Acht-Jahres-Vertrag unterschrieben. 68 Millionen Dollar verdient er in dieser Zeit. Nur wenige Eishockey-Spieler dieses Planeten verdienen mehr. Einen sechsstelligen Betrag spendet der 23-Jährige jährlich. Zuletzt hat er 1,5 Millionen Dollar an die Organisation "Hockey Helps Kids" überwiesen. Still und heimlich.

In den Tagen von Deggendorf sagt er: "Ich werde immer der Junge aus Köln bleiben." Bodenständig, bescheiden. Man kauft ihm das ab. Jeden Sommer verbringt er am Rhein, mit individuellem Training, mit der Familie. "Ich vermisse sie, wenn ich während der Saison drüben bin."

Dass Draisaitl in Deggendorf distanziert auftritt, dass er nach dem Länderspiel als einer der ersten die Halle verlässt, dass er wenig lächelt. Man könnte ihm das als Arroganz auslegen. Doch man würde ihm unrecht tun. Vielmehr ist es so: Der 23-Jährige will sich nicht in den Mittelpunkt rücken lassen. Zumindest auf dem Eis kann er sich dagegen kaum wehren. Dafür ist er derzeit einfach zu gut. Und doch sagt er: "Ich finde es immer noch schwer, Tore zu schießen." So recht mag man ihm das nicht glauben.