Kein Punkt, ein Tor, Tabellenletzter
141 Gegentore und Verlierer der Herzen: Ein Blick ins Seelenleben des TSV Böbrach

25.09.2021 | Stand 19.09.2023, 2:18 Uhr

"Ruhe bewahren! Ball annehmen! Frei laufen! Fair bleiben!" Trainer Franz Herzog motiviert sein Team vor dem Kellerduell gegen Ruhmannsfelden III. Aber auch dieses Mal setzt es eine 0:15-Klatsche. −Foto: Felix Drexler

Die Melodie, die von draußen in die Kabine schallt, könnte passender nicht sein. "Knockin’ on Heaven’s Door" dröhnt es den Spielern des TSV Böbrach in den Ohren. Ein Tor, so denkt sich vielleicht der ein oder andere, und die Himmelspforte wäre fast erreicht. Vor ihnen steht Franz Herzog. Ein Mann mit tätowierten Unterarmen, Jogginghose und einem T-Shirt mit dem Schriftzug "Wir sind ein Team". Herzog, 58 Jahre alt, ist seit drei Monaten Trainer in Böbrach. Ein 1600-Seelen-Ort im Bayerischen Wald. Unterste Liga. Dort will Herzog das schier Unmögliche möglich machen: der derzeit schlechtesten Mannschaft in Bayern das Fußballspielen beibringen.

Eine Sonderseite über die Situation beim TSV Böbrach ist am 22. September in der Passauer Neuen Presse erschienen



Heute ist die Spvgg Ruhmannsfelden III zu Gast. Ein Team, das erst ein Tor geschossen hat und mit zwei Punkten auf dem vorletzten Platz steht. Mit einem Sieg könnten die noch punktlosen Böbracher die Rote Laterne direkt weiterreichen. Wenn also heute nichts geht, wann dann? "Ruhe bewahren! Ball annehmen! Frei laufen! Fair bleiben!" Es sind einfache Kommandos, die Franz Herzog seinen Spielern mit auf den Weg gibt.

Viele von ihnen waren jahrelang nicht mehr aktiv. "Als ob du einer dritten Klasse den Stoff der ersten Jahrgangsstufe vermitteln musst", beschreibt Herzog seine Aufgabe. Gibt es einmal zu viele Verletzte oder Urlauber, schnürt er selbst die Schuhe. Auch andere erfahrene Recken springen in die Bresche, sollte Not am Mann sein. Die meisten haben ihren 50. Geburtstag längst hinter sich. Aber um dem Herzens-Verein aus der Patsche zu helfen, beißen die Böbracher auf die Zähne – auch wenn am Ende wieder nichts herausspringt.

Neun Spiele hat der TSV in der laufenden Saison absolviert, alle zweistellig verloren. Die höchste Niederlage setzt es gleich am ersten Spieltag: 0:27 heißt es Ende Juli in Haselbach. Die Bilanz ist verheerend: kein Punkt, ein Tor, 141 Gegentore, Tabellenletzter. Alfons Drexler (53) kennt diese Zahlen, redet aber nicht gern darüber. "Ergebnisse sind für uns zweitrangig", sagt der TSV-Vorsitzende, der zurzeit Medienanfragen aus ganz Deutschland beantworten muss. Nach einem PNP-Bericht über die 0:27-Auftaktniederlage waren überregionale Zeitungen hier, sogar die ARD hat sich angekündigt. Alle wollen wissen, welche Gründe es für die sportliche Misere gibt. Drexler holt kurz Luft und erzählt jedes Mal die gleiche Geschichte.

Diese geht so: Der damalige Trainer und zahlreiche Spieler kehren der Mannschaft kurz vor Meldeschluss völlig überraschend den Rücken. Die bis dato gut funktionierende Spielgemeinschaft mit dem Nachbarverein FC Kaikenried wird kurzfristig aufgelöst. Um den Verein am Leben zu halten, beschließen die Böbracher in einer Krisensitzung, es alleine zu probieren – mit dem Wissen, dass fast keine Spieler zur Verfügung stehen. Aber tatsächlich schafft es der Klub innerhalb kurzer Zeit, eine neue Mannschaft auf die Beine zu stellen. Inzwischen umfasst der Kader rund 25 Spieler. "Dennoch", sagt Drexler. "Es ist ein totaler Neuanfang."

Zum Kellerduell sind heute rund 100 Zuschauer gekommen. Was sie für ihr Eintrittsgeld bekommen: ehrlichen Fußball. Kein Schnick-Schnack, keine Show, aber Herzblut, Leidenschaft, lockere Sprüche – und viele Tore. In Zeiten von Transferrekorden, Millionen-Unsummen und Bezahlsendern sehnen sich viele danach. Die Profis, das ist hier jedem klar, könnten nicht weiter weg sein. In Böbrach sind Kombinationen selten, Bälle werden hoch und weit geschlagen. Schüsse landen meistens im Fangzaun, Angriffe scheitern häufig an der Ballannahme. Stadionatmosphäre kommt aber dennoch kurz auf, als drei "Ultras" während der zweiten Halbzeit mehrere Bengalos abfackeln.

Der sportliche Lichtblick bleibt auch dieses Mal aus. Sechs Minuten sind absolviert, da scheppert es zum ersten Mal im Kasten von Kilian Schübler. Zur Halbzeit steht es 0:7, nach 90 Minuten 0:15. "Klar tut das weh", sagt der 22-jährige Torwart. "Aber es hilft nichts. Man muss einfach weitermachen. Ziel muss jetzt sein, irgendwann einmal einstellig zu verlieren."

Für ihren Kampfgeist ernten die Böbracher Kicker Respekt von allen Seiten. "Dass sich die Jungs Woche für Woche stellen, davor ziehe ich meinen Hut", sagt ein Zuschauer. Die Spieler freuen sich über den Zuspruch und haben auch ihrerseits einen Blick für ihre Mitmenschen. So engagiert sich der Verein immer wieder für soziale Zwecke. Zuletzt kamen rund 700 Euro für die Kinderkrebshilfe zusammen. Auch auf dem Platz beweisen die Spieler viel Gespür für das Wesentliche, das belegt ein Blick auf die Fairplay-Tabelle. Dort steht geschrieben: TSV Böbrach, Platz eins.