Doku über den einstigen Radstar
„Quäl dich, du Sau!“ 25 Jahre Ullrichs Tour-Triumph und die fatalen Folgen – „Ich war fast tot“

27.06.2022 | Stand 18.07.2022, 11:18 Uhr

Die großen Rivalen: Jan Ullrich und Lance Armstrong. −Foto: dpa

Am Ende der drei Wochen, die sein Leben für immer verändern sollten, genoss Jan Ullrich das pure Glück.

Der neue Popstar des Radsports winkte im Gelben Trikot 200.000 jubelnden Fans auf den Champs-Elysees zu, in jeder Hand einen Plüschlöwen. Und ein zur Radsport-Nation verwandeltes Deutschland feierte freudetrunken einen jungen Rostocker, den es durch ein dreiwöchiges Sommermärchen für die Ewigkeit begleitet hatte.

Ein Sommermärchen, an dessen Folgen Ullrich beinahe zugrunde gehen sollte. „Ich war fast tot“, sagt er in der fünfteiligen ARD-Doku „Being Jan Ullrich“, die zum 25. Jubiläum des ersten und einzigen deutschen Tour-Sieges den Sommer von „97 und Ullrichs tragischen Werdegang vom historischen Triumph bis zum totalen Absturz 20 Jahre später nachzeichnet.

Die Geschichte des Tour-Sommers 1997 stammt aus einer anderen Radsport-Welt als jener, in der am Freitag in Kopenhagen die Tour 2022 beginnt. Einer Zeit, in der Radprofis noch vorbehaltlos vergöttert wurden. In der ein 23-Jähriger ein ganzes Land in Hysterie versetzte.

“Es war fast wie 1954, als Deutschland Fußball-Weltmeister wurde„, erinnerte sich Reporter-Legende Herbert Watterott. Und selbst mit dem Wissen um die Verderbtheit und die Manipulations-Bereitschaft des Neunziger-Jahre-Radsports kann man sich noch heute dem rauschhaften Reiz jener Bilder und Geschichten kaum entziehen.

Ullrich, schon 1996 Tour-Zweiter, war als Edelhelfer von Telekom-Kapitän und Titelverteidiger Bjarne Riis eingeplant. Doch spätestens an diesem historischen 15. Juli 1997 in Andorra-Arcalis war klar, dass Ullrich der Stärkere ist.

“Wenn du richtig gute Beine hast, fahr los, habe Riis ihm gesagt. Und Ullrich fährt. “Er erhob sich nur ein einziges Mal aus dem Sattel, und die Spitzengruppe explodierte„, schrieb L‘Equipe. Im Etappenziel hat Ullrich Gelb.

Zwei Tage später wird das Einzelzeitfahren in St. Etienne zur schieren Machtdemonstration: Ullrich überholt den drei Minuten vor ihm gestarteten Richard Virenque - der Franzose wird dennoch Tageszweiter. In den Alpen kontrolliert er seine härtesten Rivalen, Virenque und Marco Pantani - es ist eine große Show, die Abermillionen Deutsche vor die Fernseher zieht.

Und an die Straßen: Als die Tour in der Schlusswoche durch das Elsass rollt, pilgern Zehntausende über die Grenze, um den neuen Volkshelden zu erleben. Der hat danach nur noch eine heikle Situation zu überstehen: Am Grand Ballon leidet Ullrich, geschwächt durch eine Erkältung und den pausenlosen Stress. Helfer Udo Bölts grunzt in legendär an: „Quäl dich, du Sau!“

Drei Tage später hält er als Toursieger Einzug in Paris. 9:09 Minuten Vorsprung hat Ullrich auf Virenque, deutlicher gewann seitdem niemand mehr.

Mit dem Ende dieser Tour beginnt ein neues Leben. „Zur Autogrammstunde kamen auf einmal Tausende Leute. Einkaufen oder Kino war nicht möglich. Ich musste erst lernen, mit dem Riesenboom umzugehen“, sagte Ullrich dem Stern. Er lernte es nie wirklich.

Zur Tour 1998 kam Ullrich als großer Favorit, holte auch das Gelbe Trikot, verlor es aber nach einem fürchterlichen Einbruch am Galibier an Pantani - Ullrich sollte das Maillot jaune nie wieder tragen.

Es folgten große Erfolge (Vuelta-Sieg 1999, Olympiagold 2000) und noch größere Skandale. 2006 musste Ullrich wegen der mutmaßlichen Verwicklung in die Fuentes-Dopingaffäre die Tour wie ein geprügelter Hund verlassen, war sportlich erledigt, der eigentliche Niedergang beginnt - Drogen, Alkohol, 2018 als Tiefpunkt eine Verhaftung.

Mittlerweile ist es ruhiger um Ullrich geworden, es soll ihm deutlich besser gehen. Ruhe, vor allem innere: Es wäre das beste Geschenk zum Jubiläum.

− sid