2021 am Boden, heute Meister mit Eisbären Berlin

Aus dem tiefen Tal auf den Eishockey-Thron: Das fabelhafte Jahr des Deggendorfers Manuel Wiederer (25)

13.07.2022 | Stand 22.09.2023, 21:06 Uhr

Mit Pokal in der Heimat: Eishockeyprofi Manuel Wiederer vor dem Deggendorfer Eisstadion. −Foto: Alexander Augustin

Von Alexander Augustin

Im Januar 2021 wurde ihm alles zu viel, der Kopf wollte nicht mehr. Der Deggendorfer Eishockey-Profi Manuel Wiederer (25) zog sich zurück, pausierte monatelang, arbeitete an seiner mentalen Gesundheit. Im Sommer wechselte der Nationalspieler, der zuvor lange in den USA und in Kanada spielte, zu den Eisbären Berlin. Mit behutsamer Aufbauarbeit fand Wiederer dort zurück zu alter Stärke und kehrte nun als Deutscher Meister in seine Heimatstadt zurück – mit der Trophäe im Gepäck.

Was sich wohl die Verkehrsteilnehmer auf Deggendorfs Straßen gedacht haben? Manuel Wiederer (25) biegt auf den Parkplatz des Eisstadions ein. Alleine das Berliner Kennzeichen und das Eisbären-Logo auf den Türen dürften ihm Aufmerksamkeit eingebracht haben. Viel ungewöhnlicher aber ist sein Beifahrer: 10,4 Kilogramm schwer, 72 cm hoch, 13 Liter Fassungsvermögen. Der DEL-Pokal ist in diesen Tagen sein enger Begleiter, stiller und silber glänzender Ausweis eines beinahe fabelhaften Lebensjahres.

Im Frühjahr 2021 hatte Manuel Wiederer keine Motivation mehr fürs Eishockey. Der sportliche Druck, Verletzungen, private Probleme, ihm wurde alles zu viel. Jetzt ist er Deutscher Meister – als Leistungsträger bei den Eisbären Berlin.

Er stellt die Meister-Trophäe vor sich ab, blickt sie während des Gesprächs mit dem Reporter der Heimatzeitung immer wieder an. „Wenn man bedenkt, wo ich vor einem Jahr war und wo ich jetzt stehe, mit dem Pokal vor mir, ist das schon Wahnsinn“, sagt er im Schatten des Stadions, in dem er als kleiner Junge mit dem Eishockeyspielen begann.

Wiederers Karriere beginnt rasant: Mit 16 Oberliga-Debüt, mit 17 erstmals in der DEL auf dem Eis

Seine ganze Leidenschaft steckt Wiederer, der gebürtige Deggendorfer, in jungen Jahren in diesen Sport. Mit 16 spielt er für den DSC erstmals in der Herren-Oberliga, mit 17 debütiert er für die Straubing Tigers in der höchsten deutschen Eishockey-Liga. Ein Jahr später, 2015, wagt er den Sprung nach Übersee, spielt zunächst für die Moncton Wildcats in Kanada, dann draftet ihn der NHL-Klub San Jose Sharks. 19 ist Wiederer da und der Traum von der großen Karriere in der besten Eishockey-Liga der Welt ist greifbar.

Wiederer spielt drei Jahre lang für San Jose Barracuda, das Farmteam der Sharks. Er ist gesetzt, debütiert in dieser Zeit für die deutsche Nationalmannschaft. Doch immer wenn der Sprung in die NHL kurz bevorzustehen scheint, bremst ihn eine Verletzung – und dann Corona.

Als die Saison im Frühjahr 2020 abgebrochen wird, kehrt er nach Deggendorf zurück. Wiederer wird zur ersten längeren Eishockey-Pause seit langem gezwungen – und fällt in ein tiefes Loch: „Mir hat es gar nicht gut gegangen“, sagt er heute. Der Lockdown, die Ungewissheit, ein schwerer Krankheitsfall im näheren Umfeld, in Wiederers Kopf: schwarze Wolken.

Zusammenbruch beim Anruf aus San Jose: „Wenn ich rübergeflogen wäre, dann hätte mich das zerstört“

Als der Anruf aus San Jose kommt, er müsse zurückkommen, um sich auf die verspätet beginnende NHL-Saison vorzubereiten, entlädt sich das Gewitter. Wiederer bricht zusammen. „Ich hätte wegen des Lockdowns zwei Monate alleine in einem Hotelzimmer sitzen müssen. Alleine beim Gedanken daran hat es mir schlecht gegangen.“ Heute weiß er: „Wenn ich rübergeflogen wäre, dann hätte mich das zerstört.“

Erst vertröstet er seinen langjährigen Klub in Kalifornien, erbittet sich einige Wochen Pause. „Aber ich habe gemerkt, dass das keine Sache auf ein oder zwei Wochen ist.“ Der Niederbayer löst seinen Vertrag in San Jose auf, bricht dort alle Zelte ab. „Es war die richtige Entscheidung“, sagt er heute. Von Januar bis Juni 2021 verschwendet er nicht einmal einen Gedanken an Eishockey. Wiederer verbringt viel Zeit in der Natur, mit der Familie, beginnt zu meditieren, arbeitet mit einer Psychologin und einem Mentaltrainer. Er merkt nicht nur, wie sich die Wolken in seinem Kopf langsam verziehen, sondern auch, wie sich sein Körper von den Strapazen der vergangenen Jahre erholt. Im Sommer beschließt Wiederer, aufs Eis zurückzukehren.

In Berlin nehmen sie Wiederers Probleme ernst: „Es hat vom ersten Moment an geklickt“

Er spekuliert auf Engagements im näheren Umkreis – Straubing, vielleicht München. Doch dann kommt der Anruf aus Berlin. „Die Eisbären hatte ich nicht so auf dem Schirm, aber es hat vom ersten Moment an geklickt“, sagt er. Die Verantwortlichen um Trainer Serge Aubin laden ihn zum Essen ein, auch der Mentalcoach ist dabei. „Der Vertrag war schnell unterschrieben – und ich habe es zu keiner Zeit bereut.“

Aubin gibt ihm zu verstehen: Du kriegst hier die Zeit, zurück zu alter Stärke zu finden. Zu Saisonbeginn bekommt Wiederer noch eher wenig Eiszeit. „Es war anfangs ein schwieriger Prozess, etwa bis Weihnachten. Ich war plötzlich wieder Profi, musste fast jeden Tag ans Maximum gehen, das dauert einfach seine Zeit“. Das weiß auch sein Trainer. „Er wollte, dass ich jeden Tag einen Schritt nach vorne mache und nie einen zurück.“ Die Taktik der kleinen Schritte geht auf.

Nach Jahreswechsel wird Wiederer zu einem wichtigen Teil der Mannschaft, die wenige Monate später Meister werden sollte. In den Playoffs trägt der Stürmer vier Tore und drei Assists bei, entscheidet unter anderem mit seinem Tor in der Overtime das erste Halbfinale gegen die Adler Mannheim. „Die Playoffs waren extrem intensiv, weil der Zeitplan noch enger war als sonst. Aber es waren Momente für die Ewigkeit.“

„Ein langer Prozess“ sei der Weg aus der psychischen Krise, sagt Wiederer: „Dafür gibt es keine Pille oder Spritze“

Ein paar äußerliche Spuren wird Rechtsschütze Wiederer noch einige Zeit mit sich herumtragen. Wenn er sein Spiegelbild im Pokal sieht, den er vom Verein für den Heimatbesuch geliehen bekommen hat, dann sieht er den genähten Cut über seinem linken Auge, den er aus einer Final-Schlägerei mit Münchens Patrick Hager davongetragen hat. Eine Blessur am Kinn aus der ersten Runde ist schon fast verheilt. Und die psychischen Narben?

Die nimmt Manuel Wiederer als Ansporn für sich und andere. „Leider ist das Thema mentale Gesundheit weltweit, aber vor allem auch hier in Deutschland noch nicht so präsent, wie es sein sollte.“ Er habe einiges mitgemacht, sagt er, „aber ich bin daran gewachsen und jetzt Vielen mental vielleicht sogar einen Schritt voraus, weil ich gelernt habe, wie wichtig der Kopf ist.“ Der Weg aus einer psychischen Krise sei eben „ein langer Prozess. Dafür gibt es keine Pille oder Spritze.“

Neben Familie und Freunden in der Heimat habe ihm auch das Umfeld in Berlin den Weg zurück in den Profisport geebnet. „Klar, es ist die Hauptstadt, die Eisbären sind Rekordmeister, aber es fühlt sich an wie eine Familie.“

Von der richtigen Familie geht es für Wiederer nun zurück zur sportlichen, die Saisonvorbereitung ruft. Die Ziele sind klar definiert: „Wenn du einmal die Meisterschaft gewonnen hast, ist das Motivation genug, um den Titel noch einmal zu holen“, sagt Wiederer. Doch dabei soll es nicht bleiben. „Wir wollen auch international einen Schritt machen, nachdem die letzte Saison in der Champions Hockey League nicht so erfolgreich war. Wir wollen nicht nur einen Titel holen.“ Beim Heimatbesuch 2023 dürfte es dann eng werden auf Wiederers Beifahrersitz.


Das Porträt ist bereits in der Dienstagsausgabe des Passauer Neuen Presse erschienen.

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