Viele Athleten nehmen Tabletten
"Wie eine Schale Smarties": Der gefährliche Schmerzmittelmissbrauch im Spitzensport

25.06.2022 | Stand 25.06.2022, 10:00 Uhr

Vor allem rezeptfreie Schmerzmittel wie Ibuprofen werden im Spitzensport häufig prophylaktisch eingesetzt. −Foto: Hiekel, dpa

Tennisprofi Rafael Nadal hätte ohne "einige entzündungshemmende" Mittel mit seinem Problemfuß nicht den French-Open-Titel holen können. Fußballstar Zlatan Ibrahimovic überstand den Großteil der abgelaufenen Meistersaison des AC Mailand mit kaputtem Kreuzband nur dank Schmerzmitteln. Liverpools Thiago kickte nach einer Injektion mit taubem Fuß im Finale der Champions League. Funktioniert Spitzensport noch ohne Schmerzmittel?

Die Entwicklung ist alarmierend. Ärzte und Doping-Experten warnen vor gesundheitlichen Folgen und fordern einen sensibleren Umgang mit Ibuprofen und Co. – an Besserung glauben sie aber nicht. Es geht um Pillen, die Fieber senken, Entzündungen hemmen oder Schmerzen betäuben, sogenannte nichtsteroidale Anti-Rheumatika (NSAR). Mittel, deren Wirkstoffe zu schwach sind, um auf der Verbotsliste der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) zu landen, und die meist rezeptfrei sind. "Außer in Sondersituationen, wie bei chronischen Schmerzen bei Nadal, werden die Mittel von Profis oft prophylaktisch genommen. Das ist Missbrauch", sagt Sportmediziner Wilhelm Bloch von der Deutschen Sporthochschule in Köln. Der Experte schätzt, dass je nach Sportart und Kategorie mehr als 50 Prozent der Teilnehmer regelmäßig Schmerzmittel nehmen.

Der ehemalige Profi-Fußballer Ivan Klasnic ist einer der bekanntesten Fälle beim Schmerzmittelkonsum im Sport und dessen Folgen. Er sei "vergiftet" worden, erzählt der frühere Spieler von Werder Bremen. "Weil ich Schmerzmittel bekommen habe, die ich nicht bekommen durfte." Die Medikamente hätten seine Nieren kaputt gemacht und zu drei Nierentransplantationen geführt. Ein Rechtsstreit mit seinen ehemaligen Medizinern endete 2020 mit einem Vergleich.

Sportmediziner Bloch nennt neben Nieren- vor allem "Leber- und Gefäßschäden" als mögliche Folgen von Dauermedikation. "Und bei Ausdauersportlern wie Marathonläufern, bei denen es im Magen-Darm-Trakt ohnehin häufiger zu Mikroblutungen kommt, können nichtsteroidale Anti-Rheumatika die Blutungen verstärken." Zudem könnten die Mittel den Heilungsprozess nach Verletzungen beeinflussen. "Die Regenerationsfähigkeit des Gewebes ist mitunter eingeschränkt", erklärt Bloch.

Die Liste von Sportlern, die zu Schmerzmitteln greifen, lässt sich beliebig fortführen. Fußball-Weltmeister Toni Kroos offenbarte im vergangenen Jahr, verletzungsbedingt "sechs Monate unter Schmerzmitteln" gespielt zu haben. Basketball-Legende Dirk Nowitzki erklärte 2016 zwar, dass er sich keine Schmerztabletten reinhauen müsse – "andere ältere Veteranen" hätten das jedoch gemacht. Der norwegische Ski-Star Henrik Kristoffersen, der 2015 einen Tag nach einem Sturz schon wieder die Piste hinabbrettern konnte, berichtete damals: "Meine Hüfte ist ganz blau. Es tut weh. Ich habe eine Schmerztablette genommen – hier bin ich."

So sehe der Alltag im Leistungssport oft aus, sagt Bloch und berichtet von Vereinen, in denen Schmerzmittel üblich seien. "Das ist wie eine Schale Smarties, fast jeder greift zu." Eine Untersuchung der Nationalen Anti-Doping-Agentur (Nada) im deutschen Profifußball zeigt, dass zwischen den Spielzeiten 2015/16 und 2019/2020 im Durchschnitt jeder dritte Athlet im Männer- und Frauenbereich vor Spielen Schmerzmittel zu sich nahm. Vor Partien im DFB-Pokal liege die Quote bei den Herren sogar bei 40 Prozent. So hoch sei auch der Anteil bei Frauen. Laut Studie nahmen vier von zehn Fußballerinnen Schmerzmittel. In den Junioren-Bundesligen seien es 14 Prozent. Am häufigsten werde Ibuprofen konsumiert.

Experten diskutieren immer wieder, ob Schmerzmittelmissbrauch Doping ist. "Kritisch. Im Prinzip geht’s um Leistungssteigerung", sagt Bloch. "Bei hoher Belastung erreichen Sportler eine Schmerzgrenze. Durch die Einnahme von Schmerzmitteln versuchen viele, diese Grenze zu verschieben, um länger Leistung zu bringen", erklärt der Sportmediziner.

Warum also nicht die Substanzen auf die Doping-Liste setzen? "Das ist ein hoffnungsloser Kampf. Beim Schmerzmittelthema ist man im Prinzip machtlos", meint Doping-Experte und Pharmakologe Fritz Sörgel. "Das würde bis zum Bundesverfassungsgericht gehen, wenn man keine Schmerzmittel nehmen dürfte."

Statt Verbote zu erteilen, versucht die Doping-Agentur laut einer Sprecherin, mit Athleten über die Gründe und Auswirkungen von Schmerzmittelmissbrauch zu sprechen. Neben präventiven Maßnahmen brauche es ein verändertes Verständnis im System – im Umfeld von Sportlerinnen und Sportlern genauso wie in der Gesellschaft.

− dpa