Nach zwei Turnierpleiten
"Gewitter im Nachwuchsbereich": Dem DFB droht ein ganz böses Erwachen

04.07.2021 | Stand 04.07.2021, 10:00 Uhr

"Es ist fünf nach Zwölf, was den deutschen Nachwuchsfußball angeht", sagt Joti Chatzialexiou, der Sportliche Leiter Nationalmannschaften beim Deutschen Fußball-Bund (DFB). −Foto: Anspach, dpa

Manuel Neuer, Thomas Müller und Co. lecken nach dem bitteren EM-Aus immer noch ihre Wunden, während Außenseiter wie Tschechien oder Dänemark vom Titel träumen. Die zweite Turnier-Enttäuschung nacheinander hat den deutschen Fußball erneut in ein Tal der Tränen gestürzt, doch das böse Erwachen könnte erst noch folgen. "Wir sehen das Gewitter kommen im Jugendbereich. Es ist fünf nach zwölf was den deutschen Nachwuchsfußball angeht", sagte Joti Chatzialexiou.

Der Sportliche Leiter Nationalmannschaften beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) bezeichnete sich nach dem überraschenden Titelgewinn bei der U21-EM als "Mahner". Doch seine Einschätzung, "dass nach der WM 2026 auf Deutschland eine Phase der Erfolglosigkeit zukommt", ist nicht übertrieben. Auch DFB-Direktor Oliver Bierhoff findet die Aussichten "besorgniserregend".

Bis zur Heim-EM 2024 komme aber "schon das ein oder andere nach", glaubt Bierhoff, er denkt dabei in erster Linie an Top-Talente wie Jamal Musiala und Florian Wirtz. Doch es mangelt an der spezifischen Ausbildung. Dem Land der Mittelstürmer fehlt seit Jahren ein echter Neuner. Daher vermisst nicht nur Bierhoff einen "Strafraumstürmer mit Killerinstinkt".

In Zeiten der falschen Neun hielt man diesen Stürmertyp für nicht mehr so wichtig. Doch den Wert eines richtigen Mittelstürmers sieht man nicht nur beim deutschen Rekordmeister Bayern München an Robert Lewandowski. Romelu Lukaku (Belgien), Patrik Schick (Tschechien) und Harry Kane (England) nehmen bei den EM-Viertelfinalisten eine Schlüsselrolle ein.

Der DFB hat dieses Problem erkannt und steuert seit dem historischen WM-Debakel 2018 mit dem Projekt Zukunft entgegen. In einer gemeinsamen Arbeitsgruppe mit der Deutschen Fußball Liga (DFL) arbeitet man an Veränderungen im Nachwuchsbereich.

Neben der Abschaffung der Junioren-Bundesligen soll es Verbesserungen im Bereich der Trainerausbildung, der Talentförderung und der Auswahlmannschaften geben. Die Ausbildung der Nachwuchsspieler soll wieder spezifischer werden - mehr Dribbler als Einheitstypen. "Wir brauchen die Spieler, die sich auch auf der Straße durchsetzen", forderte Chatzialexiou. Dabei ist aber Geduld gefragt. Diese Maßnahmen würden nicht "von heute auf morgen greifen", so Bierhoff.

Der gerade gewonnene U21-Titel dient zwar als Mutmacher, doch die Aussagekraft ist überschaubar. Von der U21-Auswahl, die 2017 Europameister wurde, stand einzig Serge Gnabry im EM-Kader. Auch bei anderen Nationen ist der Übergang nicht einfach. Die Ukraine wurde vor zwei Jahren U20-Weltmeister. Aus diesem Aufgebot schaffte es kein Spieler zur laufenden EURO.

Zudem zogen andere Länder ihre für die U21 einsatzberechtigten Spieler direkt in die A-Nationalmannschaft hoch. Aus der DFB-Auswahl hätte einzig Kai Havertz noch für die U21 auflaufen können. Daher sei man im Altersvergleich "ein bisschen hinten dran", sagte U21-Erfolgscoach Stefan Kuntz: "Da wissen wir schon, dass wir hinterher hinken."

Es wird ein steiniger Weg, um diesen Rückstand wettzumachen. "Andere Nationen", betonte Chatzialexiou, "sind individuell weiter". Daher müsse man "mehr wollen als andere", um "in der Spitze eine größere Breite zu haben".

England dient als Vorbild. Allerdings profitierte der Nachwuchs dort auch von den hohen TV-Einnahmen der Premier League. "In den letzten zehn Jahren wurde viel in Personen und Strukturen im Jugendbereich investiert", sagte Per Mertesacker, der Leiter der Akademie beim FC Arsenal: "Das zeigt jetzt Früchte."

Damit die düsteren Prognosen nicht eintreten und die Zukunft nicht noch erfolgloser wird, bedarf es einer Kraftanstrengung des gesamten deutschen Fußballs. "Auch die Bundesliga-Klubs müssen ihre Schlüsse ziehen aus der EM: Ist alles so richtig mit der Ausbildung, setzen sie die richtigen Schwerpunkte? Was machen andere Länder besser?", sagte der ehemalige Bundestrainer Berti Vogts.

− sid