Verzicht auf A- und B-Bundesliga
Kritik an radikaler Nachwuchsreform des DFB: "Man kann nicht nur Ringelpiez mit Anfassen spielen"

01.01.2020 | Stand 01.01.2020, 12:00 Uhr

Oliver Ruhnert, Geschäftsführer vom Bundesligisten Union Berlin, übt Kritik an der geplanten Reform. "Wir priorisieren das völlig Falsche", sagt der Nachwuchsexperte. −Foto: dpa

Es sieht nicht gut aus für den deutschen Fußball. Die Nationalmannschaft befindet sich nach dem blamablen WM-Aus 2018 noch immer in der Selbstfindungsphase. Und von unten rücken nur noch wenige Talente nach. Im Vergleich mit den europäischen Top-Ligen ist Deutschland "so was von abgeschlagen", lautet die erschreckende Erkenntnis von U21-Nationaltrainer Stefan Kuntz. Deshalb plant der DFB eine radikale Reform der Nachwuchsausbildung, will U19- und U17-Bundesliga abschaffen. Doch das so genannte "Projekt Zukunft" stößt nicht nur auf Zustimmung.

Das Problem freilich sehen alle: Nur noch wenige deutsche Talente schaffen den Sprung in die Bundesliga. In England, Spanien, Frankreich und Italien sind es weit mehr. Daher schlug der DFB Alarm, die Reform der Talentarbeit steht im neuen Jahr ganz oben auf der DFB-Agenda. "Wenn man schaut, wie wenige deutsche U21-Nationalspieler im Stammkader von Bundesligisten sind, dann zeigt dies, dass wir das gesamte Ausbildungskonzept so schnell wie möglich überarbeiten müssen", betonte Verbandchef Fritz Keller kurz vor Weihnachten. "Wir müssen so schnell wie möglich das Projekt Zukunft Fußball, das ja schon in den Kinderschuhen steckt, gemeinsam mit den Landesverbänden entwickeln."

Das Projekt Zukunft. Was steckt dahinter? Unter der Führung des Sportlichen Leiters der Nationalmannschaften Joti Chatzialexiou und des Cheftrainers der Junioren-Auswahlteams Meikel Schönweitz wurden von einer gemeinsamen Arbeitsgruppe aus DFB und DFL seit Februar 2018 umfassende Reformpläne für die Talentförderung im deutschen Nachwuchsfußball erarbeitet. Kernpunkt des Papiers ist nach Informationen des "Kicker": Der "Ausbildungscharakter" solle gegenüber dem Wettbewerb im Vordergrund stehen.

Konkret bedeutet das: Die Junioren-Bundesligen (U19 und U17) soll in ihrer bisherigen Form abgeschafft werden. Der Spielbetrieb soll sich künftig nur noch aus "Entwicklungsspielen" und "Entwicklungsturnieren" zusammensetzen. Soll heißen: Die Nachwuchsleitungszentren der Profi-Mannschaften (aktuell 56) werden aus dem regulären Spielbetrieb ausgegliedert und treten nur noch gegeneinander an. Durch diese Maßnahmen, die den Wegfall von Tabellen sowie von Auf- und Abstieg implizieren, soll der Ausbildungs-Charakter in den Vordergrund gestellt werden.

Das ausgewiesene Ziel des DFB ist demnach eine individuelle und dem Alter der Spieler angepasste Ausbildung. Diese soll sich vom Ergebnis- und Erfolgsdruck der vergangenen Jahre lösen und ein Umfeld schaffen, in dem sich Spieler möglichst positiv und frei entwickeln können.

Auch für die jüngeren Jahrgänge soll der überregionale Spielbetrieb (Regionalliga) wegfallen und durch eine "flexible Spielrunde" ohne Tabelle ersetzt werden. Die Spieler, heißt es im Konzept, sollen "ausprobieren und etwas riskieren können". Angedacht sind "flexible, situationsbedingte Zusatzregeln", die noch nicht final festgelegt wurden. "Im Sinne der Individualförderung ist eine in Drittel aufgeteilte Spielzeit denkbar, in der jeder Spieler eine Mindesteinsatzzeit zu absolvieren hat. Die jungen Fußballer, so die Idee, sollen sich dadurch weiterentwickeln und ihr Potenzial ohne Ergebnisdruck entfalten können", schreibt die "Süddeutsche Zeitung" (SZ). Für den April des neuen Jahres ist eine erste Pilotphase geplant, nach einer Übergangssaison könnte das neue Modell frühestens zur Saison 2022/2023 greifen.

Die Überlegungen kommen allerdings nicht überall gut an. Vor allem kleinere Vereine, die sich derzeit in den Bundesligen bzw. Regionalligen mit den Profivereinen messen können, sind wenig begeistert. Einige Klubs aus dem Norden Deutschlands, deren Jugendmannschaften es immer wieder schaffen, die Eliteteams aus den Leistungszentren ernsthaft herauszufordern, haben gemeinsam ein Papier verfasst und wollen die Reformpläne in ihrer derzeitigen Form nicht mittragen.

Von den Profivereinen hat sich lange niemand geäußert – bis kurz vor Weihnachten. Oliver Ruhnert, Geschäftsführer vom Bundesligisten Union Berlin, meldete sich in einem Interview mit der "SZ" zu Wort − und übt lautstark Kritik. Der langjähriger Nachwuchsexperte hält die Reform für wenig zielführend. "Ich wundere mich, dass man allen Ernstes glaubt, mit solchen Ideen den deutschen Fußball und den deutschen Nachwuchsfußball zu retten", sagte Ruhnert.

Er kritisierte unter anderem den "radikalen Schnitt zwischen Amateur- und Profisport, zwischen Leistungszentren und Amateurfußball". Kleine Vereine würden hoffnungsvolle Talente noch früher verlieren. Man mache "die Mannschaften der Leistungszentren mit 20, 25 und mehr Spielern voll, und vom Rest haben die wenigsten eine Möglichkeit, sich sozusagen über den zweiten Bildungsweg zu entwickeln", sagte Ruhnert. Auch sieht er es kritisch, dass in den älteren Jahrgänge das Ligensystem abgeschafft werden soll. "Selbstverständlich muss es im älteren Juniorenbereich als Vorbereitung auf den Erwachsenenfußball auch um Ergebnisse gehen. Auf- und Abstieg gehören da dazu."

Ruhnert warnt den DFB auch davor, die Ausbildung komplett weichzuspülen. "Wer Jugendliche zu Profifußballern ausbilden will, weiß: Man kann nicht immer nur streicheln. Man muss sie mental auf den Ergebnisfußball vorbereiten und kann nicht ein halbes Jahr Ringelpiez mit Anfassen spielen. Da stehen der DFB und die DFL, die ja für die Leistungszentren mitzuständig sind, in der Verantwortung."

Der Union-Geschäftsführer stellt allerdings auch klar, dass es Veränderungen geben muss. Jedoch solle man aus seiner Sicht eher bei den Trainern ansetzen. "Bei den Verbandstrainern, den Landestrainern, den U-Trainern. Nach Hansi Flick und Matthias Sammer (beide ehemalige Sportdirektoren des DFB; Anm. d. Red.) ist auf dieser Ebene gar nichts mehr passiert, das muss man auch mal so deutlich ansprechen." Es würden Experten fehlen, erfahrene Trainer, die sich in gewissen Altersbereichen besonders gut auskennen. "Heute kann jeder alles machen – weil er seine Fußballlehrer-Lizenz hat. Wir machen ja fast jeden jungen Trainer zum A-Lizenz-Trainer. Und wer trainiert dann die Jungs? Überspitzt formuliert: die großen Brüder der Spieler, weil diese Lizenzen in sehr jungem Alter erworben werden. Fachwissen ist aber oft auch eine Frage der Erfahrung, die so junge Trainer aber noch gar nicht haben können. Hier verschwenden wir viel Knowhow."

Ruhnert sieht es auch als kritisch an, dass das Scouting der Spieler zu früh eingestellt werde, falls diese noch nicht in einem NLZ sind. "Die Trainer mancher Landesverbände bleiben zu oft in ihren Sportschulen und gucken sich Schalke gegen Dortmund an. Dann finden sie aber nur die, die eh jeder kennt." Der Nachwuchsexperte fordert, dass die Verbandscoaches mehr raus gehen müssten auf die Plätze, anstatt immer noch mehr Lehrgänge abzuhalten. "Die U18-Nationalmannschaft fährt mit 20 Betreuern und 16 Spielern irgendwo hin", schimpft Ruhnert und fügt an: "Wir priorisieren das völlig Falsche."

Die Reform "Projekt Zukunft" nütze in erster Linie der neuen DFB-Akademie in Frankfurt. "Die Reform sorgt dafür, dass man sie auslastet. Also noch mehr Lehrgänge. Aber ich frage mich: mit wem denn? Die Verbände machen doch die Spieler nicht gut, es sind die Vereine. Und der Wettbewerb", sagte Ruhnert: "Wenn wir diese Struktur kaputt machen, eine Trennung von der Basis durchsetzen, dann sägen wir einen Ast durch, auf dem wir alle sitzen."

− la/sid