Das große Interview, Teil 2
Bayern-II-Rückkehrer Holger Seitz: Aufstieg in die 3. Liga nicht „oberste Priorität“

05.01.2023 | Stand 17.09.2023, 6:08 Uhr

−Foto: Imago Images

Seit November ist er wieder zurück als Trainer des FC Bayern München II: Holger Seitz (48), niederbayerischer Fußball-Experte aus Malching, soll nach dem Wechsel von Martin Demichelis zu River Plate den Rekordmeister-Nachwuchs in der Regionalliga Bayern zurück in die Spur bringen. Wir haben uns mit Holger Seitz unterhalten. Lesen Sie heute den zweiten Teil unseres Interviews.

Zuletzt hatte es auch manchmal den Anschein, bei der U23 der Bayern seien die Ergebnisse etwas zweitrangig. Aktuell steht die Mannschaft auf Rang Sechs in der Regionalliga.
Seitz: Deshalb kann auch niemand zufrieden sein. Wir sind hier im Leistungsbereich, alle hier konzentrieren sich nur auf Fußball, wollen hochkommen, da kann ich nicht sagen, die Tabelle ist Nebensache. Von den U23-Spielern kann aktuell keiner von sich behaupten, dass er mit seiner Vorrunde zufrieden ist. Mein Maßstab ist Profispieler zu entwickeln und deswegen müssen wir zulegen, sonst wird’s nicht reichen.

Was muss im Frühjahr besser werden?
Seitz: Zum Beispiel haben wir 38 Gegentore kassiert, das ist ein absolutes No-Go für eine Mannschaft, die mit guten Talenten gespickt ist. Wir müssen künftig viel besser verteidigen.

Ist die Mannschaft zu jung? Der Altersschnitt liegt kaum über 20.
Seitz: Glaube ich nicht. Klar, wenn du als A-Jugendspieler gegen abgezockte Akteure spielst, die seit langen im Herrenbereich unterwegs sind, stößt du immer wieder mal an deine Grenzen. Doch durch ihr Talent, die Unbekümmertheit und vor allem die hohe Motivation, Fußballprofi zu werden, sollten unsere jungen Spieler das ausgleichen können. Ausreden wegen des Alters gelten ab einem bestimmten Zeitpunkt der Saison nicht mehr. Wir reden von der Regionalliga Bayern, die zweifelsohne gut ist – aber die Jungs sehen sich doch alle in ganz anderen Ligen. Von daher müssen sie auch dazu in der Lage sein, mit 18, 19 Jahren eine konstant gute Leistung zu bringen. Die fußballerische Wahrheit liegt bekanntlich auf dem Platz.

Wie sieht es mit der Rückkehr in die 3. Liga aus? Ist das künftig wieder ein Thema?
Seitz: Die Planungen laufen nicht darauf hinaus, dass wir sagen, wir müssen im nächsten Jahr um jeden Preis aufsteigen. Würden wir den Aufstieg als oberste Priorität festlegen, hätte das eine Anpassung der individuellen Förderungsstrategie zur Folge. Beispielsweise müssten wir dann im Sommer, dem ein oder anderen Talent eine Vereinsausleihe zu einem Zweit- oder Erstligisten verweigern. Im Sinne der individuellen Förderung bewerten wir unser Ausleihmodell positiv und werden entsprechende Abgänge vielmehr wieder mit den nachrückenden A-Jugendlichen kompensieren. Trotzdem wollen wir besser dastehen als aktuell und überdurchschnittlich gute Leistungen konstant auf den Platz bekommen. Wo das dann tabellarisch hinführt, wird man sehen. Die 3. Liga bleibt unser Ziel, jedoch nicht um jeden Preis.

Mit Paul Wanner und Arijon Ibrahimovic (beide 17) haben die Bayern zwei Toptalente in ihren Reihen. Spielen sie künftig auch in der Regionalliga?
Seitz: Beide sind noch jung, sie wurden im Dezember geboren und werden in diesen Tagen erst 17 Jahre alt. Wo sie in der Rückrunde zum Einsatz kommen, werden wir gemeinsam mit dem Profitrainerteam immer wieder neu beurteilen. Wichtig ist, dass sie regelmäßig spielen. Beide haben auf jeden Fall das Zeug, es nach ganz oben zu schaffen.

Jamal Musiala hat es schon geschafft. Warum gibt es in Deutschland so wenige Spieler seiner Klasse?
Seitz: Jamal ist ein Ausnahmespieler. Ich finde, dass wir unsere Werte etwas verloren haben, die früher oft zitierten deutschen Tugenden, die Basics, die ein Fußballspiel entscheiden. Darüber hinaus haben wir uns zu stark mit den Schwächen von Spielern auseinandergesetzt, anstatt ihre Stärken zu fördern und das, was sie besonders macht, noch mehr zu verbessern. Das stärkt ihre individuelle Qualität und ihr Selbstvertrauen. Auch in der Ausbildung der Trainer waren Anpassungen notwendig. Bevor man in mannschaftstaktische Systemdiskussionen einsteigt, muss das Handwerkszeug gelernt werden, wie z. B. Passspiel, Kopfbälle oder wie ein Defensiver Zweikampf richtig funktioniert. In meiner damaligen Zeit als Trainerausbilder beim Bayerischen Fußball-Verband habe ich oftmals eine große Ungeduld von jungen Nachwuchstrainern diesbezüglich wahrgenommen. Meiner Meinung nach wurde auch über die Medien ein falsches Bild von einem Fußballtrainer vermittelt. Die Gegenüberstellungen von Grundordnungen wurde rauf und runter diskutiert. Als Trainer sucht man Vorbilder, sucht eine Orientierung. Demzufolge hatten sich die Sichtweisen vieler Trainer auf die falschen Schwerpunkte verändert. Am FC Bayern Campus haben wir seit einiger Zeit klare Entwicklungsschwerpunkte für jeden Jahrgang und pro Saison, die nach einem Treppenstufenmodell aufeinander aufbauend trainiert werden. Das hat sowohl bei Spielern als auch Trainern einiges zum Positiven ausgelöst.

Was ist entscheidend, damit wir wieder mehr Spiele gewinnen?
Seitz: Zusätzlich zu den bereits erwähnten Punkten haben wir die Persönlichkeitsentwicklung von unseren Spielern als Verbesserungspotenzial wahrgenommen. Wir Deutsche hatten immer gute Zweikämpfer, gegen uns zu spielen war immer sehr unangenehm. Warum? Weil unsere Mannschaften fast immer eine gute Struktur mit Führungsspielern oder Teamplayern hatten. Um erfolgreich spielen zu können, ist dies meines Erachtens sehr wichtig. Diesbezüglich haben wir am Campus Anpassungen in der Ausbildung unserer Spieler auf und auch außerhalb des Platzes vorgenommen. Hier sind unsere Trainer die wichtigsten Personen um den Spieler herum.

Warum hat man dieser Grundtugenden aus den Augen verloren?
Seitz: Nur ein Beispiel: Irgendwann zu Pep Guardiolas Zeiten beim FC Bayern haben Rondos und Positionsspiele auch in der Nachwuchsausbildung Einzug gehalten. Das war im Nachhinein Fluch und Segen zugleich, denn bei einer falschen inhaltlichen Ausrichtung dieser Übungsformen eignet man sich falsche Automatismen an. Es besteht die Gefahr, sich nur auf den Ballbesitz zu konzentrieren, ohne dabei effektiven Raumgewinn zu bekommen oder dass die Spieler jedem 1 gegen 1 in der Offensive aus dem Weg gehen. Denn wird der Spieler angegriffen, spielt er den Ball wieder ab. Die Folge davon ist, dass auch die so wichtigen Defensiv-Zweikämpfe zu wenig trainiert werden. Bei der richtigen inhaltlichen Ausrichtung und der Dosierung im Training, sowie dem richtigen Coaching, können Rondos und Positionsspielen durchaus eine Bereicherung für die Ausbildung unserer Spieler sein.

Dann hatte auch Mehmet Scholl Recht, als er schon vor Jahren die Trainer- und Talentausbildung in Deutschland abwatschte und schimpfte, dass sich Kinder nicht mehr im Dribbling probieren dürften, stattdessen aber „18 Systeme rückwärts laufen und furzen können“.
Seitz: Meine Wahrnehmung damals war, dass Mehmets Deutlichkeit für einige irritierend war, dass sich einige vor den Kopf gestoßen gefühlt und daher so abwertend reagiert haben. Aber der Inhalt war sicher nicht falsch.

Nehmen sich Nachwuchstrainer zu wichtig?
Seitz: Das kann man sicherlich nicht verallgemeinern. Es sind einige richtig gute Nachwuchstrainer unterwegs, die mit viel Begeisterung, Leidenschaft und fachliches Know-how unsere Spieler entwickeln. Dennoch habe ich auch durch den Austausch mit Kollegen aus anderen NLZ den Eindruck bekommen, dass es Nachwuchstrainer gibt, die ihre Position als Sprungbrett benutzen, um schnellstmöglich in der Karriereleiter nach oben zu kommen. Und diese Trainer sind für die Spielerentwicklung kontraproduktiv, da die Prioritäten falsch gelegt werden. Es geht dann in erster Linie nicht um den Spieler, sondern um deren selbst. Das hat einiges negatives zur Folge. Für uns ist es wichtig, die Trainer zu finden, die sich für die Aufgabe begeistern. Die Freude und Zufriedenheit verspüren, wenn sie einen Spieler auf und auch außerhalb des Platzes vorangebracht haben. Und die gibt es nach wie vor.


Hier lesen Sie Teil I des Interviews.