Urs Meier: Dann muss ein Schiri auch mal ein Spiel abbrechen

24.10.2013 | Stand 18.09.2023, 22:57 Uhr

"Betrüger muss man vom Platz stellen können": Urs Meier sprach im PNP-Interview Klartext.  − Foto: Pangerl

Er war ein internationaler Top-Schiedsrichter, pfiff bei Welt- und Europameisterschaften und stand im Champions-League-Finale. Heute ist Urs Meier als Redner und TV-Experte ein gefragter Mann. Die PNP traf den Schweizer in Pfarrkirchen (Lkr. Rottal-Inn), wo er einen Vortrag bei einer Veranstaltung der VR-Bank hielt, zum Gespräch. heimatsport.de dokumentiert das Gespräch über Übereifer auf den Zuschauerrängen und über die Ohnmacht des Schiedsrichters. Meier spricht über die Doppelbestrafung und darüber, warum er Wolfgang Stark in Schutz nimmt.

Herr Meier, gerade erleben wir wieder Fälle, dass Schiedsrichter angepöbelt wurden und deshalb bestimmte Fußballplätze meiden – sofern sie nicht ganz aufhören. Wie wollen Sie heute noch jemanden an die Pfeife locken?

Meier: Das ist eigentlich eine verrückte Sache. Ich habe das Gefühl, dass gerade bei den Jugendlichen das Schiedsrichteramt sehr beliebt ist. Man kriegt die 14-,15-, 16-Jährigen, aber das Problem ist, dass sie dann relativ schnell aufhören. Vor allem die ersten ein zwei Jahre sind aber die entscheidenden. Ich habe das selbst erlebt. In dieser Zeit geht einfach alles, was man hört und erlebt, direkt ins Herz, und das tut verdammt weh. Man braucht ungefähr zwei Jahre, bis man eine Schutzfunktion hat und das Gehörte nicht mehr ins Herz geht, sondern links rein und rechts raus. Diese Zeit stehen viele junge Schiedsrichter nicht durch, weil das, was von draußen kommt, einfach zu viel ist. Da sind Zuschauer, Eltern und Verantwortliche, die brüllen, anstatt zu sagen: Halt, Stopp! Viele der jungen Burschen sind alleine unterwegs, und oft ist niemand da, der ihnen hilft. Im Gegenteil: Beim ersten Pfiff heißt es: Was ist denn das für ein Anfänger, was ist denn das für ein Arschloch, der hat ja keine Ahnung. Dass so einer dann irgendwann aufhört, ist normal. Da müsste einfach viel mehr Verständnis kommen, dann könnten diese Schiedsrichter länger gehalten werden.

Abgesehen davon: Was kann der Verband tun?

Meier: Für die jungen Schiedsrichter muss man spezielle Ausbildungsprogramme anbieten. Das wird zum Teil gemacht, zum Teil aber auch nicht. Außerdem muss geschaut werden, dass sie nicht immer nur bei alten Schiedsrichtern dabei sind, die nichts anderes mehr wollen, als es gemütlich haben. Man muss ihnen Perspektive geben und mit ihnen arbeiten. Ich war bei einigen Kursen hier in Deutschland, und da musste ich schon manchmal den Kopf schütteln. Wenn du da einen Lehrgang in einem Wirtshaus hast und das Wichtigste ist, dass der Vorsitzende die Spielpaarungen am nächsten Samstag oder Sonntag bekannt gibt – kein Video, keine Powerpoint, nichts dabei hat – was bleibt da für einen Jungen? Die wollen vorwärts kommen und ausgebildet werden. Da stimmt einfach das Umfeld nicht. Unser Ziel müsste sein, die Hälfte der jungen Schiedsrichter dauerhaft zu halten. Dann nehmen auch die Belastungen für jeden Einzelnen ab.

Rassismus rückt immer mehr in den Fokus, nicht nur in den Top-Ligen. In unserer Gegend ist es in letzter Zeit zu mehreren gravierenden Vorfällen und Spielabbrüchen gekommen. Die Unparteiischen spielen dabei oft eine unrühmliche Rolle. "Das wird alles überhört", so der Vorwurf betroffener Spieler und Vereine. Wie soll ein unterklassiger Schiedsrichter mit einer solchen Situation umgehen?

Meier: Rassismus ist ganz sicher ein Thema, das latent ist, das wir nicht nur im Fußball haben, sondern leider auch in der Gesellschaft. Was für die Gesellschaft gilt, gilt auch für den Fußball: Das Wegschauen, Weghören ist feige und falsch. Und gerade als Schiedsrichter muss man seine Aufgabe auf dem Spielfeld wahrnehmen. Wenn ein Spieler seinen Gegenspieler rassistisch beleidigt, dann gibt es nichts anderes als Rot. Was von außen kommt, muss je nach Schwere gemeldet werden. Auch müssen die Verbände die Schiris dementsprechend instruieren, was zu tun ist. Für mich gibt es zwei Möglichkeiten: Erstens eine Ermahnung: Hört auf, sonst muss ich das Spiel abbrechen. Zweitens dann der Spielabbruch. Das ist immer das Gravierendste für einen Referee, denn du musst dir eingestehen, dass deine Macht nicht mehr ausreicht, ein Problem zu lösen.

Oft spielt dabei aber Angst eine Rolle?

Meier: Klar, du bist natürlich oft alleine und denkst, was passiert dann. Da muss von den Verbänden ganz klar gesagt werden: Wenn es Rassismus gibt, den ihr nicht stoppen könnt, dann brecht auch mal ein Spiel ab, da stehen wir hinter euch. Das muss spürbar sein. Und wenn die Schiedsrichter diese Rückendeckung spüren, dann haben ganz viele auch den Mut. Bei so einem Problem muss man gemeinsam Zeichen setzen.

Herr Meier, neben dem Phantom-Tor diskutiert die Bundesliga momentan auch über die Flut von Handelfmetern. Bei der aktuellen Regelung hilft eigentlich nur noch abhacken, oder?

Urs Meier: Ich denke, man hat es ganz einfach zu kompliziert gemacht. Derzeit herrscht bei allen Beteiligten eine große Unsicherheit. Dabei ist es im Prinzip ganz einfach: Der Grundsatz ist nämlich immer derselbe. Es geht um die Absicht, die zu erkennen und auch zu ahnden ist. Ich denke, dass das Ganze wieder in diese Richtung vereinfacht werden sollte. Keine Absicht, kein Elfmeter. Punkt.

Gibt es dieses Problem auch in anderen Ländern oder handelt es sich um ein Bundesliga-spezifisches Phänomen?

Meier: Das Problem ist ein rein deutsches. Man wollte seitens der Verantwortlichen diese Saison wohl ein Augenmerk darauf legen und ist dabei über das Ziel hinaus geschossen. Dass Schwerpunkte gesetzt werden ist richtig und gut, aber beim Handspiel wurden die Pferde aufgescheucht und die galoppieren momentan in alle möglichen Richtungen. Man muss jetzt wieder zurückkommen aufs Normale. "Keep the thing simple" – Fußball ist einfach, nicht kompliziert. Das war immer seine Stärke.

Diskutiert wird auch über die so genannte Doppelbestrafung. Oft hört man, die Schiedsrichter finden diese Regelung selber doof, trauen sich jedoch nicht, es auch mal nur bei einer Gelben Karte zu belassen – Stichwort Fingerspitzengefühl – weil ja auf der Tribüne der Beobachter sitzt.

Meier: Das ist eben kein Fingerspitzengefühl! Entweder du hast die Regel oder du hast sie nicht. Und wenn du sie hast, dann kann nicht einer sagen, ich mach jetzt Fingerspitzengefühl und der andere nicht. Da muss eine Einheit sein. Das sind die internationalen FIFA-Regeln, und die sagen nun mal: Bei Zunichtemachung einer klaren Torchance gibt es Rot. Und da geht es gar nicht mal um den Beobachter. Natürlich weiß ich auch, wenn der Beobachter oben sitzt und ich in so einer Situation nicht Rot zeige, dann habe ich eine schlechte Bewertung und vielleicht kommt meine Karriere ins Stocken. Aber in erster Linie geht es darum, hier das Regelwerk umzusetzen, auch wenn wir das nicht gut finden.

Was wäre die Alternative?

Meier: Man könnte differenzieren, denn gerade für den Torhüter ist es wirklich Scheiße. Ein Verteidiger kann sich häufig noch entscheiden und ist dann selbst doof, wenn er eine Notbremse auspackt. Da finde ich es in Ordnung, dass so einer auch mal vom Platz fliegt. Aber beim Keeper, da bist du dir auch als Schiedsrichter oft nicht hundertprozentig sicher. Hat er den Ball noch gestreift, hat der Stürmer abgehoben? Beim Torhüter gibt es nur null oder hundert, entweder er trifft den Ball oder nicht. Und die Stürmer wissen das ganz genau und probieren es. Wenn sie Glück haben, gibt es Rot und Elfmeter.

Dann sollten vielleicht diese Betrugsversuche härter sanktioniert werden.

Meier: Eben, das ist genau das, was ich fordere. Momentan kann ein Spieler, der betrügt, maximal mit einer gelben Karte bestraft werden. Ich bin in meiner aktiven Zeit auch Stürmer gewesen, da denkt man schon: Die Chance ist groß und das Risiko minimal. Dann lass ich mich halt mal fallen. Das muss sich ändern. Wir wollen fairen Sport, wir wollen, dass die Betrügereien weniger werden, dann muss man aber auch mal einen Betrüger vom Platz stellen können.

Ein weiteres Streitthema ist seit Jahren das passive Abseits. Sie wollen das Abseits ganz abschaffen. Das kann doch nicht ihr Ernst sein?

Meier: Doch, das ist mein voller Ernst! Es werden so viele Sachen im Fußball versucht, aber was man nicht testet ist, das Abseits abzuschaffen. Der moderne Fußball erstickt in der Taktik. Du hast immer 20 Spieler, die in einem Bereich von 30 Metern sind und das nicht mal über die ganze Breite. Das nimmt dem Fußball die Luft. Auch die FIFA hat ja diskutiert, das Spiel wieder attraktiver zu machen und mehr Platz zu schaffen. Weniger Spieler waren eine Überlegung. Doch der Fußball ist halt sehr konservativ.

Wie soll dann Ihre Variante aussehen?

Meier: Das muss man überlegen. Es gibt die Möglichkeiten, es ganz abzuschaffen, bis zum Sechzehner oder nur im Sechzehner. Ich bin überhaupt erst drauf gekommen durch die vielen Fehlentscheidungen bei der WM 2006. In dieser Zeit habe ich mit einem Hockey-Nationalspieler gesprochen, und der hat gesagt, es war das Beste, das Abseits im Hockey abzuschaffen. Erstens gab es keine Diskussionen mehr, zweitens wurde der Sport viel attraktiver. Da habe ich gesagt, warum kann man das im Fußball nicht machen? Ich denke es wäre mal einen Versuch wert, zu sehen, was passiert, wenn man ohne Abseits agieren würde.

Mit Wolfgang Stark kommt einer der deutschen Top-Schiris aus unserer Region. Sucht man ihn im Internet, bietet Google "schlechtester Schiedsrichter" als drittbeliebteste automatische Such-Vervollständigung an. Zu Recht?

Meier: Ich glaube da muss man nicht diskutieren. Wer auf die Palmares von Wolfgang schaut, weiß, dass er ein Top-Schiedsrichter ist. Ich denke er muss sich selber hinterfragen, warum er so hart kritisiert wird. Eines könnte natürlich seine Körpersprache, sein Auftritt sein. Er ist immer sehr klar, sehr distanziert.

Manche würden auch sagen arrogant.

Meier: Ja, das ist ja das Problem. Die Trennlinie zwischen Selbstsicherheit und Arroganz ist sehr schmal. Es nur ein Schritt von der Selbstsicherheit, die Schiedsrichter haben müssen, zur Arroganz. Und den darf man nicht machen. Natürlich musst du immer wieder an dir arbeiten. Und wenn du immer wieder dieselben Kritiken bekommst, dann musst du dich vielleicht schon mal fragen, was könnte ich anders machen? Ich kenne Wolfgang Stark privat sehr gut. Er ist alles andere als arrogant.

Stark wird im November 44, seine Jahre als Schiedsrichter sind also gezählt. Sie selbst mussten 2004 altersbedingt aufhören. Ist die Altersgrenze überhaupt noch zeitgemäß?

Meier: Das Alterslimit ist überholt. Das wurde 1990 bei der Fußball-WM eingeführt. Hintergrund war, dass in dieser Zeit die Schiedsrichter nicht gut trainiert waren. Das waren keine Sportler, sondern Respektspersonen dank ihres Amtes. Aber dann hat sich der Fußball weiterentwickelt, wurde viel viel schneller. Man hat gemerkt, die Schiedsrichter waren mit dem Tempo überfordert. In den Konditionstests waren die Limits damals lächerlich tief, und selbst die wurden von sehr vielen Referees nicht mal erreicht. Das Alterslimit wurde schließlich gesenkt und es kam das große Umdenken. Heute sind das alles richtig gute Sportler, die für den Fußball leben.

Also pfeifen, solange die Puste dafür reicht?

Meier: Es sollte – abgesehen davon, dass man das Profitum einführen sollte – sein wie bei den Spielern. Wenn ein Schiedsrichter entsprechend trainiert, gesund ist und Leistung bringt, dann soll er eben auch länger pfeifen können. Einem Matthäus hat man auch nicht gesagt, jetzt bist du 36 und zu alt. Es gibt Schiedsrichter die sind mit 43 schon ausgebrannt und bringen keine Leistung mehr, die pfeifen aber noch bis 45. Das ist Quatsch. Und wenn einer mit 50 noch seine Leistung bringt und die Tests besteht. Wo liegt dann das Problem?

Juckt es sie heute noch öfters?

Meier: Nein. Es hat mich in all den Jahren nur ein einziges Mal gejuckt. Das war vor ungefähr zwei Jahren, da habe ich ein Mailänder Derby in meinem Lieblingsstadion San Siro angesehen. Als ich eine halbe Stunde vor Spielbeginn reingelaufen bin, war schon alles angerichtet, da habe ich gesagt: Wow! Jetzt würde ich gerne da unten stehen…

Herr Meier, zum Abschluss: Nächstes Jahr werden Sie wieder als ZDF-Experte bei der WM im Einsatz sein. Verraten Sie uns, wie Sie es mit Katrin Müller-Hohenstein aushalten?

Meier: Gut, sehr gut! (lacht) Katrin ist eine ganz tolle, selbstständige Frau. Ich freue mich jedes Mal wieder, wenn ich sie sehe. Die Kritik an den Sendungen allein an ihr aufzuhängen, finde ich unfair. Sie macht einen sehr guten Job. Sie ist sehr professionell, arbeitet unglaublich viel und ist absolut detailbesessen. Ich freue mich auf alle Fälle, mit ihr zusammenzuarbeiten.

Das Gespräch mit Urs Meier führte Norbert Pangerl.